laut.de-Kritik
Cocker wird Noiserocker. Sein Bart war vorher schon grau.
Review von Michael SchuhSo muss es in den 60er Jahren Bob Dylan-Fans ergangen sein. Sobald der Termin eines neuen Studioalbums näher rückte, stieg der Adrenalinspiegel nicht nur anhand der Aussicht auf neue, zeitlose Melodie-Ornamentik, sondern vor allem der Texte wegen.
Was, so fragt auch jeder Jarvis-Verblendete, beschäftigt den Meister diesmal, für wen schlägt sein Herz, äußert er sich politisch oder straft er missliebige Kollegen ab? Seit Pulps "This Is Hardcore" stelle auch ich mir solche Fragen, man hat ja sonst nix zu tun.
Wo lernt man als 45-jähriger, frisch getrennter Sänger eigentlich Frauen kennen, wäre auch eine dieser Fragen und da wir hier über Jarvis Cocker reden, bekommen wir die Antwort natürlich prompt geliefert: Man trifft sie im Paläontologischen Museum.
Nun war sein Solodebüt "Jarvis" von 2006 ja eigentlich ganz in Ordnung, selbst wenn fast nur noch die Stimme das Bindeglied zur Vergangenheit darstellte. "I Will Kill Again" und natürlich die Politiker-Ohrfeige "Cunts Are Still Running The World" hallten noch länger nach, doch allzu oft verlor sich der Meister in seltsam countryesker Beiläufigkeit.
Als sähe er das rückblickend genau so, dröhnen zu Beginn von "Further Complications" sechs Anschläge lang Gitarrenrückkopplungen, bevor uns Cocker wissen lässt, dass er es seinerzeit in Muttis Gebärmutter überhaupt nicht eilig hatte und mit drei Wochen Verspätung rausflutschte, da er damals schon ahnte: Es drohen "further complications".
In unnachahmlicher Wortwahl und mit überraschend bockigen Rock-Riffs feiert El Jarvico seine musikalische Rückkehr. Kein Wunder: Besuchte er doch mit Steve Albini in Chicago einen Produzenten, dessen Klienten vor fünfzehn Jahren eine Art Gegenentwurf zu Pulps Hochglanz-Pop ablieferten.
Cocker als Noiserocker? Die Vorstellung klingt zunächst verwegen, aber das Ergebnis passt. Zumal das Songwriting auf "Further Complications" wieder mit einer höheren Dringlichkeit besticht, was mit dem Einfluss des Gitarrenmanns Albini nur indirekt zu tun hat. "Leftovers" ist beispielsweise sanftester 70s Soul im Stile eines Randy Newman mit einer aus Cockers Mund in dieser Zynismuslosigkeit lange nicht gehörten Eindeutigkeit als Refrain-Höhepunkt: "I wanna be your lover." (Ja, wir sind wieder im Museum!)
Gleich im Anschluss bricht Jarvis auf dem kunstvollen Anti-Lovesong "I Never Said I Was Deep" in lyrischer Hochform mit der ihm über Jahre hinweg zugeschriebenen Intellektualität. Eine Passage gerät zitierfähiger als die andere, besonders schön ist: "If every relationship is a two-way street / I have been screwing in the back whilst you drive".
Das alles ändert nichts daran, dass sich die Jarvis-Popfraktion an der rauhen Dynamik reiben dürfte, die bei manchem Stakkato-Riff mit etwas Fantasie die Urschrei-Therapeuten der Stooges ins Gedächtnis ruft. "Further Complications", das hingerotzte "Angela" und vor allem der Garage-Brocken "Fuckingsong" enthalten wenig musikalische Elemente, die Cocker dorthin brachten, wo er heute ist.
Das halb-instrumentale "Pilchard" huldigt unüberhörbar großartig den 60s-Nihilisten der Monks. Schade ist eigentlich nur, dass auf dem Album mit "Caucasian Blues" und dem orientierungslos rumpelnden "Homewrecker" (hier spielt sogar Stooges-Intimus Steve Mackay Saxofon) auch mal etwas Langeweile aufkommt.
Der Discosong "You're In My Eyes" klingt dann plötzlich wie eine Reverenz an die Heroen des Stax-Labels und fungiert als sanfter Rausschmeißer aus einem wirren wie interessanten Album, dessen Rock-Bekenntnis in etwa so eckig daher kommt wie Cockers Tanzstil.
Bleibt nur noch die Frage: Was soll der Vollbart? Die Veräußerlichung des neuen Sounds? Natürlich nicht: "Ich ließ ihn mir stehen, um mein Gesicht zu wärmen, als ich in die Arktis unterwegs war. Danach beließ ich es so. Die Anzahl der grauen Haare schockierte mich anfangs, aber jetzt denke ich, es erinnert mich auf praktische Weise an meine eigene Sterblichkeit."
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