laut.de-Kritik
Hit me, Jochen, one more time!
Review von Jasmin LützJetzt kriechen die Ich-Maschinen wieder aus ihren Löchern und stürzen sich mit Empörung und Nörgelei auf das neue Album von Jochen Distelmeyer. Spätestens seit "Verbotene Früchte" steckt der Blumfeld-Held irgendwie in der Schlager-Schublade, dabei "stand der Apfelmann einfach so in seinem Zimmer". Warum soll man nicht auch mal über Pflanzen und Tiere singen?
Aber, hey! Diesmal geht es nicht um seine eigenen Songs, sondern um Musiker, die ihn persönlich prägten, und Songs, die ihm einfach vom Text her gut gefallen. Das erfreuliche Resultat: ein Coveralbum, das quer durch die Folk-, Blues-, Pop- und Hit-Geschichte führt, eben "Songs From The Bottom, Vol. 1".
Auf seinen Konzerten hat Jochen immer wieder Lieblingssongs gecovert, auch mit Blumfeld. In Köln stimmte er 1999 sogar "Ich Bin Ene Kölsche Jung" an setzte und Seals damaligen Hit "Killer" grandios um. Den Auslöser für sein erstes Coveralbum lieferte jetzt aber eher sein Debüt-Roman "Otis", der 2015 erschien und den Kritiker ziemlich verrissen. Die Lesungen dagegen boten großes Entertainment und wunderbare Live-Performance.
Da schmetterte der gut gelaunte Jochen mal eben einige Lieblingssongs zur Akustikgitarre und sang mit betörender Stimme in englischer Sprache. Kreisch! Man klebte förmlich an seinen Lippen und verschmolz mit den ollen Sitzgelegenheiten. Selten klangen Lieder über Liebe, Schmerz und Zweisamkeit so leidenschaftlich schön.
Nach der ersten Videoveröffentlichung von "Toxic" nahm die Vorfreude auf das komplette Album bereits Ende 2015 große Ausmaße an. Bis dato galten Travis als die großen Britney Spears-Cover-Helden. Die hatten "...Baby, One More Time" Ende 1999 in ein ganz neues Pop-Licht gerückt. Anfangs von den Schotten nur zum Spaß als Zugabe live gespielt, wurde daraus ganz schnell ein viel bejubelter Indie-Hit. Niemand trällerte den Refrain so herzzerreißend wie Fran Healy.
Jetzt spielt auch Jochen in dieser Liga ganz oben mit. "Toxic" gibt er lässig auf dem Stuhl zum Besten und stiehlt der Pop-Diva mal eben die komplette Show. Seine sehnsuchtsvolle Stimme befördert jede Zeile wie Amors Pfeil mitten ins Herz. Hier passt die Chemie zwischen einfachen Worten und dem einsamen Klang der Akustikgitarre.
Den Song einer Dame, die Distelmeyer schon länger begleitet und die ihn wesentlich mehr inspirierte als Madame Spears, setzt er gleich an den Anfang seines Sammelsuriums. Der leicht verstaubte Klassiker "Just Like This Train" von 68-Folk-Legende Joni Mitchell klingt aus Jochens Feder erfrischend neu. Der Text funktioniert ebenso aus der männlichen Perspektive. Er schafft es sogar, ihre ungewöhnlichen Akkorde nachzuspielen.
Joni ist bekannt für ihr individuelles Vorgehen beim Stimmen ihrer Gitarren. Auch Lana Del Reys "Video Games" bewegt auf eine ganz neue Art das Gemüt. Den Videoclip zu Distelmeyers Version drehte Kim Frank in wunderbaren Schwarz-Weiß-Bildern. Der Zuschauer verfolgt Jochen, von Daniel Florey am Piano begleitet, auf dem Weg zu einem seiner Konzerte.
Die gesamte Auswahl von "Songs From The Bottom Vol. 1" zeigt Distelmeyes ganz persönliches Hit-Paket. Dank ihm wird "Let's Stay Together" von Soul-Star Al Green zur akustischen Lagerfeuer-Freude. Country-Barde und Schauspieler Kris Kristofferson lässt er mit "This Old Road" in neuem Glanz erstrahlen. Sogar den Club-Hit "I Could Be The One" vom schwedischen Erfolgs-DJ Avicii wandelt Jochen locker in ein wunderschönes Klangerlebnis um. Wo sonst die Bässe beben, erklingt hier ein Meer aus ruhiger Klaviermelodie und Akustikgitarre.
Darüber hinaus wagt er sich sogar an die große Hymne "Bitter Sweet Symphony" der englischen Britpopband The Verve. Man erinnert sich an das pompöse Streicher-Arrangement und Richard Ashcroft, der im Video die Straße entlang läuft, abwesend, irgendwie gleichgültig, und dabei jeden anrempelt, der ihm entgegenkommt. Das war der Sommer-Hit 1997.
18 Jahre später kommt der Jochen vorbei, pfeift selbstbewusst die eingängige Melodie ins Mikro und kreiert ohne Violinen-Ensemble, nur mit Stimme und Akustikgitarre, seine ganz eigene Sinfonie. "Songs to remember", so heißt es im Blumfeld-Stück "So Lebe Ich". Hier erinnert man sich gerne, an die alten und die neuen Versionen.
"Please, cover me, Baby!", werden jetzt einige Musiker denken. Auf den zweiten Teil darf man sich, genau wie auf weitere Live-Auftritte, jetzt schon freuen.
2 Kommentare mit 3 Antworten
finde ich auch wesentlich unterhaltender als seine frühphase und die meisten blumfelder....sein "toxic" ist auch ok. aber an die großartige version von yael naim kommen weder er noch travis auch nur entfernt heran....frau spears ohnehin nicht. https://www.youtube.com/watch?v=zqKZ_WIK5ms
die version ist auch sehr schön, stimmt.
jay-lü ist ja ein schönes kürzel, frau kollegin
Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.
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