laut.de-Kritik

Ein Aufruf zur Rebellion.

Review von

Eine Melodie, die so eingängig ist, wie der Klassiker "My Favorite Things", möchte man einfach mitsingen oder summen. John Coltrane und Eric Dolphy machen diesem Wunsch mit dem Live-Album "Evenings At The Village Gate" aber einen dicken Strick durch die Rechnung: Mitsingen ist hier schlicht unmöglich.

Inspiriert von den Klängen und musikalischen Strukturen indischer Ragas wagte John Coltrane in seinem Album "My Favorite Things" die Dekonstruktion des beschwingten Hits, der aufgrund des Musicals "The Sound Of Music" (und der späteren Verfilmung) zunächst in den USA, danach weltweit bekannt wurde.

Der Mitschnitt des Live-Auftritts von Dolphy und Coltrane entstand an einem Abend im August 1961, fünf Monate nach Veröffentlichung des besagten Studio-Albums. Eigentlich waren die Aufnahmen als Sound-Test für die neue Klanganlage des Musikclubs gedacht. Aus diesem Grund verschwanden sie irgendwann in der Versenkung und aus der Erinnerung. Doch als man in den Archiven der New York Public Library über das Fundstück stolperte, wurde schnell klar, dass nun auch die breitere Öffentlichkeit in den Genuss dieses Live-Konzerts kommen sollte.

Die Platte umfasst fünf Tracks. Der kürzeste von ihnen ("Impressions") ist knapp 10 Minuten lang, der längste ("Africa") über 22 Minuten. Wer das Album in einem Stück genießen will, muss also Zeit und Aufmerksamkeit mitbringen. Coltrane und Dolphy waren Vorreiter und Mitbegründer des Free Jazz, das ist an einigen Stellen des Albums bereits deutlich erkennbar. Das hier ist keine Fahrstuhl-Musik, so viel ist klar. Kritiker nannten Coltranes Sound gar "Anti-Jazz". Der völlig neue Sound war seiner Zeit weit voraus. Doch trotz aller Höhenflüge hangelt sich die fünfköpfige Band an der groben Struktur der Jazz-Klassiker entlang und findet immer wieder zu einem erkennbaren Grundmotiv zurück.

Bestes Beispiel dafür ist der Opener "My Favorite Things", den Eric Dolphy mit seiner Querflöte beginnt. Wie einen Vogel bringt er sie zum Zwitschern. Als Coltrane mit dem Sopransaxophon einsteigt, applaudiert das Publikum. Er beginnt mit der bekannten Melodie des Musical-Hits. Danach rutscht "Trane" die Tonleiter hoch und runter, bis er sich manisch an einem hohen Ton festbeißt und schließlich zur Melodie zurückkehrt. Dolphy legt seine Töne zaghaft drüber. In den folgenden Stücken wechselt er zu Bass-Klarinette und Altsaxophon.

Das Schlagzeug, gespielt von Elvin Jones, drängt sich akustisch in den Vordergrund und verschluckt Reggie Workmans Bass zeitweise vollständig. Dies ändert sich auch während der restlichen Aufnahmen nicht, weshalb das Album auch nicht mit dem 1962 veröffentlichten "Coltrane Live At The Village Vanguard" vergleichbar ist, das eine wesentlich bessere Abmischung aufweist.

Das darauffolgende "When The Lights Are Low" beginnt lässig spazierend. Im Hintergrund lässt sich leise McCoy Tyner Klavierbegleitung vernehmen, die erst bei seinem Solo hervorleuchtet. Dolphys Parts sind sehr klar vernehmbar. Im Vergleich zum Opener geht er etwas mehr aus sich heraus, währenddessen produziert er mit Coltrane einen Sound, der sich mit dem Flug einer verärgerten Wespe vergleichen lässt.

Auch "Greensleeves" verpasst das Quintett einen völlig neuen Anstrich. Im ersten Drittel überwiegt Tyners kraftvoller Klavierpart. Danach stimmt Dolphy zunächst brav die Melodie an, bevor Coltrane sie wild auseinanderreißt.

Der abschließende Track "Africa" sticht besonders hervor. Er ist bis heute die einzige Live-Aufnahme des Stücks, das Coltrane kurz vorher im Studio aufnahm. Die Live-Version ist länger und durch ihre Spontanität wilder. Spätestens beim polyrhythmischen Schlagzeug-Solo in der zweiten Hälfte des Songs müssen sämtliche Kinnladen des Publikums auf den Boden gefallen sein.

Die Aufnahmen zu "Evenings At The Village Gate" entstanden in einer Zeit ungeahnter Möglichkeiten, in der Dolphy und Coltrane mit neuen Klängen die Grenzen des Möglichen austesteten und mit ihrem unorthodoxen Blick auf Jazz-Traditionen die Musikwelt provozierten. Doch die freie Ausdrucksform der beiden Künstler war gleichermaßen eine Rebellion gegen die diskriminierenden Gesetze der Rassentrennung. Das Konzert war ein Vorbote des avantgardistischen Coltrane-Albums "Africa/Brass", das nur wenige Monate später erschien. Mit dem Blick auf die Emanzipation vieler afrikanischer Staaten lieferte es einen wichtigen musikalischen Kommentar zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Trackliste

  1. 1. My Favorite Things
  2. 2. When Lights Are Low
  3. 3. Impressions
  4. 4. Greensleeves
  5. 5. Africa

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