laut.de-Kritik

Musik mit Sogwirkung aus einem Land vor unserer Zeit.

Review von

Ende der 1980er befindet sich die sowjetische Rockband Kino auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen wie kommerziellen Schaffens. Wobei das im zweiten Fall lediglich bedeutet, dass sie erstmals überhaupt etwas vorweisen kann, was sich als kommerzielles Schaffen bezeichnen lässt.

Rockstar ist kein Beruf, der im Sowjetsozialismus so vorgesehen ist. Und doch ist besonders der charismatische Frontsänger Wiktor Zsoi spätestens seit dem letzten Album der Band genau das. In seiner Selbststilisierung als einsamer Held wird er zum Idol einer Generation, mit den politischen Untertönen zwischen seinen meist persönlich gehaltenen Liedern zum Lautsprecher des gesellschaftlichen Umbruchs verklärte Figur.

Kino gehört dabei eindeutig zu den Gewinnern der unter dem Schlagwort der Glasnost vollzogenen Lockerungen. Nur wenige Jahre liegen zwischen den über im Samisdat-Verfahren überspielte unter der Hand als Kassetten weitergegebenen ersten Alben der Band und dem großen Erfolg von „Gruppa Krovi“. Und zwei Jahre später sollte die Band sogar im Moskauer Olympiastadion vor über 60.000 Fans spielen.

Kino ist nicht weniger als der Soundtrack der letzten Jahre der Sowjetrepublik und von dem her schon allein als gesellschaftsgeschichtliches Dokument bemerkenswert. Aber obwohl die Musik, wie viele andere Vertreter ihres Genres, beim ersten Hören ein bisschen angestaubt klingen mag, entfaltet sie bald eine Sogwirkung.

Das gilt besonders für "Zvezda po imeni Solntse" (Ein Stern namens Sonne), den herrlich düsteren Nachfolger des oben genannten Erfolgsalbums. Die vielerorts bleiern schwere Post Punk ist hörbar von westlichen Bands und klingt trotzdem ganz eindeutig russisch und sozialistisch. Da sind etwa die Arbeiterchor-Anleihen in "Невесёлая песня", die sich auch auf "Пачка сигарет", dass dazu aber noch um einen schäbigen Eckkneipen-Walzer ergänzt wird.

"Wenn sich in der Jackentasche eine Schachtel Zigaretten befindet, heißt das, dass am heutigen Tag nicht alles schlecht ist", singt der melancholische Bass von Wiktor Zsoi, dem das Charisma, auch ohne, dass man ein Wort russisch versteht, aus jeder Zeile tropft. Wobei es sehr lohnt, sich die Texte genauer anzugucken.

Wie es auch lohnt, genauer auf die spannenden Kontraste hinter der meist finsteren Fassade zu gucken. Da wird etwa das unbarmherzige industrielle Stampfen des Titelsongs mit einer zwischengeschobenen Melodie konterkariert, die reichlich kurios an ein Akkordeon am Pariser Seine-Ufer anmutet. Und "Место для шага вперёд" ist als überraschend schneller und fröhlicher Song fast schon so etwas wie Sowjet-Funk.

Die Kinomania, die in den letzten Jahren und noch einmal verstärkt durch Zsois Tod um die Band ausbrach, ist nie auch nur annähernd in den Westen herübergeschwappt. In den letzten Jahren immerhin scheint auch durch das Filmporträt „Leto“ von Kirill Serebrennikow ein gewisses Interesse an der Band aufzuleben. Dazu trägt wohl auch die in den sozialen Medien ausgebrochene Faszination für Sowjetästhetik bei, die etwa der - von Kino mehr als nur wenig beeinflussten – belarussischen Band Molchat Doma einen bemerkenswerten Tik-Tok-Hype bescherte. Vielleicht verstärkt das ja auch hierzulande das Interesse, sich hineinziehen zu lässt ihn die charakteristische Klangwelt der größten Band des ehemaligen Ostblocks.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Песня без слов
  2. 2. Звезда по имени Солнце
  3. 3. Невесёлая песня
  4. 4. Сказка
  5. 5. Место для шага вперёд
  6. 6. Пачка сигарет
  7. 7. Стук
  8. 8. Печаль
  9. 9. Апрель

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