laut.de-Kritik
So viel Wirbel um (fast) nichts.
Review von Karim ChughtaiGaga ist also so was wie der MJ des Post-Millenniums, die Madonna der Gegenwart, die personifizierte singuläre Massenhysterie aller Boybands der vergangenen Dekaden. Auch wenn sich diesen Erfolg zwar niemand so recht erklären kann, besonders hinsichtlich der kurzen Laufzeit ihrer Karriere, lassen die statistischen Superlative am Status der Künstlerin keine Zweifel offen. Stattdessen scheint der Stuhl im Pop-Olymp erst einmal unantastbar, ganz gleich welche Qualität "Born This Way" innewohnt.
Das Phänomen Gaga darf als Spiegelbild einer medial übersättigten und gleichzeitig abgestumpften Gesellschaft gesehen werden, flehend um Sensation und lechzend nach immer schockierenderem Aktionismus. Oder als symbolische Willenlosigkeit des kommerziellen Musikgeschäfts, als simple Sättigung eines Marktzweiges, geregelt durch die globale Nachfrage. Oder schließlich als feist ausgeklügelte Strategie, via vorgekautem Marketing- und Mediaplan, den Ruhm eines Weltstars zu erlangen.
Der Erfolg von Stefani Joanne Angelina Germanotta liegt nicht nur in der Fügung und perfekten Ausführung dieser Kriterien, besonders aber in der konsequenten Konzeption ihrer selbst. Ihre eigentliche Funktion im Showbusiness, die einer Musikerin, spielt längst nur noch die Nebenrolle. Die Musik wird vielmehr zu einer Art Alibi, das die Daseinsberechtigung des exzentrischen Exhibitionismus legitimiert. Gaga ist keine Künstlerin mehr, Gaga selbst erwuchs inzwischen zum Kunstwerk.
Dazu gehören verstörende, Verwirrung stiftende Auftritte, die Wahrung der Illusion um ihre Figur und der gutmütige Deckmantel moderner Kunst. Ein Album wird dadurch zwar zum Sprachrohr eines ganzen Projekts, stellt letztlich aber nicht mehr dar als das Werk eines Werks bzw. das Produkt eines Produkts. Wenn man diesem sogleich anschmiegsame Labels wie Avantgarde-Techno-Rock für dosenüblichen Pop attestiert und ein Albumcover im Heavy Metal-Chic präsentiert, weil das so ja gar nicht vereinbar sei, zeigt das die gähnende Oberflächlichkeit der aktuellen Unterhaltungsindustrie, wie sie um Beachtung buhlt, perfekt auf.
Teil des Gaga-Werks ist allerdings auch der Einsatz für Minderheiten, ob für homosexuelle Soldaten, für anzupassende Einwanderungsgesetze oder als Spendenaufruf in den eigenen sozialen Netzwerken. Lady Gaga wird als postmoderne Avantgarde-Ikone umjubelt, gleichzeitig wird ihr als engagierte Aktivistin im Kampf um Gleichstellung niemand gerecht.
Während die Erläuterung der Person Gaga einiges an Zeit bedarf, bleibt der musikalische Output dieser Künstlerin weitaus simpler zurück. Als Pokerface 2.0 eröffnet "Marry The Night" den langersehnten Nachkömmling: "Ma-ma-ma-marry/ Ma-ma-ma-marry/ Ma-ma-ma-marry the night/ Oh/ Ma-ma-ma-marry/ Ma-ma-ma-marry/ Ma-ma-ma-marry the night". Ähnliche Wiederholungsstakkati, halbgare Übersteuerungen als Relikt der fiepsenden New Rave-Modeerscheinung, verhaltene Verse, übertriebene Hooklines, kein geglückter Opener. Leider sind das exakt die Accessoires, mit denen Frau Gaga ihre gesamte neue Kollektion plant.
Im Vorfeld fand "Born This Way" bereits reichlich Beachtung, wegen seiner angeblich unübersehbaren Nähe zu Madonnas "Express Yourself". Zwar klopft der Track der Queer-Szene aufmunternd auf die Schultern ("Don't be a drag, just be a queen"), allerdings klingt er vielmehr wie David Guettas "When Love Takes Over". Und das dazu noch ziemlich ebenbürtig ärmlich. Stattdessen kuschelt "Judas" viel enger mit "Like A Prayer". Außer einer wobbelnden Basslinie und dem gezückten Zeigefinger hat der Track aber keine ähnliche Sensation wie dessen Vorreiter zu bieten.
"Goverment Hooker" dagegen zeigt endlich einmal musikalische Qualität. Und dann auch ziemlich exakt auf, warum Lady Gaga die gesamte Szene zu einer Four-To-The-Floor-Marschroute verleitete, die sich von leichten 8-Bit-Sounds speist und mit Arpeggios Flipper spielt. Der Beat, endlich nicht ganz so gewohnt plump, dafür catchy, bouncig, ein paar Soundeffekte aus der Pariser Szeneküche und schon kann sich der Track sehen lassen. Wäre da nicht wieder einmal eine Hook, die das Fremdschämen als neue olympische Disziplin ausruft. Umgarnt von sinnlosen Flächen, langwierigen Synthesizer-Decken und Sing-Sang-Message wird binnen zwei Takten aus dem selbstproklamierten Hipster-Future-Sound billigster Kirmes-Techno, der zur Happy Hour im Kettenkarussell einlädt.
Alle Tracks auf "Born This Way" besitzen klare, eingängige Melodien, deren Mission in der Ohrwurm-Zucht liegen. Das Pop-Schema fungiert als bewährtes Fundament im funkelnden Pailletten-Palast. Das Übel liegt auch nicht in der Gestaltung der Verse, die Refrains verunstalten den Gesamtbeitrag. Sie sind es, die aus dem eigentlich künstlerischen Anspruch ein gerade mal schwaches Pop-Bläschen aufpusten. Das machen auch Tango-tanzende Gipsy-Cumbia-Gitarren im inhaltlich eigentlich stärkeren Stück "Americano" nicht wett. Menschenunwürdiger als die Einwanderungsgesetze der USA ist nämlich dieser spezielle Refrain, der aus der Gesellschaftskritik eine Folk-Schlagerparade à la Costa Cordalis macht.
Dada-Gaga wie in "Scheiße", wo unkenntliche, deutsch anmutende Wortfetzen ohne Sinn und Verstand knarzende Synthies von 2 Unlimited treffen, hält seinen Erwartungen als treibendes Rave-Brett auch nicht lange stand, jumpstylt dagegen lieber ausgiebig zu Eurodance und wäre ohne Chorus wieder gar nicht so blöd. Egal, "I, I wish I could be strong without the scheiße, yeh".
Die Definition der eigenen Freiheit mit "As free as my hair" zu vergleichen, halte ich jetzt einfach mal so unpassend wie die Katy Perry-Nachahmung in "Bad Kids", das seine rauen Electro-Rock-Gitarren einfach mal über Bord wirft.
Zwar versucht sich die Skandal-Nudel auf dem Album an etwas brachialerem Rotz-Sound, der die Skrupellosigkeit aller Punks dieser Erde vereinen möchte. Übrig bleibt aber nur eine Version mit kindergesicherten, abgeschliffenen Nieten.
"Born This Way" findet seine Klasse, wenn es eben nicht den neongefärbten Skandal-Marktschreier mimt, sondern auch mal ruhiger wird, wie in "Blood Mary", das Justice-gechoppte Samples hinter dem zurückgehaltenen Gesang verbirgt. Diese Momente sind aber viel zu rar.
Lady Gaga versteht die Inszenierung. Sie landet Performance-Acts statt veritabler Hits. Im kollektiven Gedächtnis bleibt dieses überschrill produzierte Glam-It-Produkt mit künstlerischem Anspruch auf alle Fälle, jedoch kein einziger Song, der die musikalische Zeitgeschichte prägt oder gar erschüttert wie im Falle "Thriller".
184 Kommentare
Crap.
Die Review ist GENAU so ausgefallen wie ich sie erwartet habe: 'Government Hooker' und 'Bloody Mary' werden gemocht weil sie anderst sind und mehr gelaber über Frau Gaga selbst als über das Album.
Das Album hat einiges mehr zu bieten als diese Kritik aufzeigt, aber anscheinend taucht Laut nur tiefer in die Materie ein wenn sichs um irgendeinen Künstler/Album handelt das nicht Major ist oder "Mainstream" fährt.
Klar, jeder seine Meinung. Aber diese plumpe Verheizung von aktuellen großen Künstlern nervt mich langsam wirklich.
KillPikachu, ist dir aufgefallen, dass die Kritik irgendwie ... überlang ist?
Ich finde es richtig frech, dass man Kate Bush nur einen winzigen Text widmete, aber hier ins Obit abschweift. Und ganz ehrlich - mehr als Lady GaGa die Person ist Lady GaGa nicht. Musik ist das Alibi, absolut.
Und wenn du ganz genau drauf achtest ist der Text klar strukturiert. Die erste Hälfte handelt von Lady Gaga und die zweite von der "Musik".
Ich will jetzt keine Worte zählen, aber hier wird mehr über Musik geredet als in anderen Reviews.
Wenn du das hier mit einer Bat for Lashes Rezension vergleichst wird dir auffallen, dass man hier verdammt gut auf den Inhalt des Albums eingegangen ist.
Ob es dir nun passt was drin steht ...
Auf Laut.de wirst du wohl nicht glücklich werden.
so, fast ein dreiviertel jahr nach VÖ hab ich mir das werk dann auch mal zugelegt und lustig ist, dass ich die review fast wieder vergessen hatte, sie mir dann beim anhören aber wieder einfiel.
denn sie bringt das hauptproblem des albums auf einen punkt!
diese riesige diskrepanz zwischen ihren wirklich guten songschreibe -und kompositionsskills und diesen schrecklich billigen beats!
dieses album hat lyrisch und kompoitorisch so viel potenzial, die frau hat echt ein unglaubliches talent, aber sie verheizt es durch diese beats. niemand hat was gegen elektronik, aber der großteil der beats ist einfach zu billig. hätte sie sich vernünftige beatbastler ins studio geholt und die beats tiefer und basslastiger und einfach qualitativer (euro dance kirmes und autoscooter fiel ja auch schon) gestaltet, wäre das album wirklich gut gewesen!
aber gaga hatte schom immer einen hang zu billig beats, war ja bei the fame nicht anders.
kann nur sagen, schade, denn zumindest kompositorisch ist es in ihrem bereich mindestens album des jahres, das müssen katy und konsorten erstmal nachmachen.
und ich kann dem damaligen kommentar von anwalt nur zustimmen, die rewiev ist super, widmet sie sich doch zum großen teil dem gesamtkonzept und image gagas, was man bei der bewertung der cd einfach nicht außen vor lassen kann!
positiv möchte ich aber noch "you and i" erwähnen, was durch die geschichte und seinen "80er gitarren rock" charme besticht und "highway unicorn", das erinnert mich an "dancer in the dark" von fame - monster und hat, bis - mal wieder - auf den refrain, nen geiles fast schon ironisches 80er gewand, ich find das super:)
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.
„Born This Way“ umrankte 2011 einen dermaßen großen Hype, dass ich davon ausging, das neue Album wird genauso ein Verkaufsschlager, wie das Debüt. Doch weit gefehlt - das zweite geht „nur“ zwischen schlappen 7 und 8 Millionen Mal über die Ladentheke. Anscheinend waren viele Frau Gaga überdrüssig geworden, wie die Verkaufszahlen zeigen.
„Born This Way“ taugt weder als neuer „Thriller“, noch als „Like A Prayer 2.0“.
Für einen so schnell aus dem Boden geschossenen, nur vordergründig perfekt agierende n und zusammengeschraubten Popstar ein leidlicher Tiefpunkt.
„Born This Way“ kann ich bedenkenloser anhören, als ihr Debüt, was (für mich zumindest) ein Vorteil darstellt. Warum Gagas Album-Produzenten (erneut) Madonna referieren müssen (Titeltrack, Judas, Electric Chapel, Bad Kids, ...), bleibt mir bis heute ein Rätsel.
Highlights (bzw. die besseren Songs des Albums) für mich: der Titeltrack (trotz vielem LGBTI-Oberflächengedöns, ein solider Popsong), Judas (das wenig bessere, stärkere „Like A Prayer“-Imitat, trotz kopierter Basslinie). Sch**** passt echt gut nach Berlin in jedem x-beliebigen Technoclub, die Government-Hooker-Demo fällt etwas besser aus, als die vorliegende Albumversion und das „Gimme-More“ gesamplete Gepiepe von BritBitch im Hintergrund nervt, genauso wie Hook/Refrain („Ga-gaa-aah-aah/Government Hooker/...“). Bloody Mary ist klasse, wie bereits in der Rezension oben beschrieben, und Heavy Metal Lover ist mein Lieblingslied des gesamten Albums: Vocodereffekte, eine sägende Filterhouse-Basslinie und ein hymnischer Refrain. Von dieser Sorte Liedgut hätte Gaga ruhig mehr liefern können, denn diese zwei Beispiele zeigen, das „Born This Way“ ein solides Konzept zugrunde liegt und ein ebenso solides Dancepopalbum hätte werden können.
The Edge of Glory klingt vielmehr nach einem modernen 80s-House-Rock-Zwitter auf Apres-Ski-Party-Niveau. Ein Song, der von der queeren Szene weltweit mit offenen Armen empfangen wird.
Der Stadionrock (inklusive We Will Rock You-Zitat) von You And I nervt, obwohl der Song als reine Country-Pop-Rock-Ballade ziemlich hübsch klingt.
Lady Gaga‘s „Born This Way“ wird dem großen Hype nur teilweise gerecht. Es ist stringenter und abenteuerlicher produziert, als ihr Debüt, der neue Sound noch mehr 80er-lastig und hält mehr Techno parat (was beim desaströsen Hair und Americano aber einfach nur grauslich klingt).
Meine Bewertung fällt dementsprechend noch mit „solide“ aus, wenngleich ich gern mehr gegeben hätte.
3/5 Sternen.