laut.de-Kritik
Die Wettergöttin der Gitarrengewitter lässt die Erde nur kurz wackeln.
Review von Philipp KauseGeradlinig durchmisst die Singer/Songwriterin Melissa Etheridge mit ihrer Fender-E-Gitarre den Radius diverser Themenfelder: #metoo, Liebe, Menschenkenntnis, Sehnsucht, Schmerz, die US-Politik. So zumindest sagt sie es in den PR-Infos. Auch im 32. Jahr ihrer Karriere hat Etheridge jede Note laut der Credits-Angaben selbst komponiert und jede Silbe selbst getextet.
Selbst ist die Frau, und damit sind wir schon im ersten Thema von Melissas Album. Oder treffender: In einem Thema, das man sich gerne anhören würde und von ihr präsentieren ließe. All ihre Anspielungen und ihre Kritik merkt man aber zu wenig, etwa in der Zeile "you gave a piece of your body, but still you keep the darkness of a heart that's blind / it's weighing heavy on your mind / but a good looking woman like you / never had to wait for her dreams to come true" aus "Woman Like You". Da möchte etwas heraus, aber der Hintergrund des Titels ist unklar. Und so löst sie nirgends ein, was sie ankündigt: ein Konzeptalbum mit Fokus auf bedeutungsvollen Lyrics, die man auch als solche erkennen kann.
Musikalisch klingt das Album zurückhaltender als die meisten vorherigen von ihr. In einem Memphis-Geschichtsalbum lotete sie Soul und Rhythm & Blues aus. Jetzt geht es "um Gesundheit, um Wohlbefinden, um Cannabis, um diesen ganzen neuen Ansatz, diesen Paradigmenwechsel (...) Jeder Song des Albums ist von diesem Thema durchzogen", sagt sie. Und: "Der Albumtitel 'The Medicine Show' sagt doch alles!" Ach so?!
Was dann ihre Schockstarre nach der Wahl Trumps mit "diesem Thema" zu tun hat, weiß man vielleicht als Amerikaner. "Shaking" behandelt den Moment am Morgen nach der Wahl. Aber auch hier: nur Andeutungen, die auf viele Themen passen könnten: "A laughter or a scream / everything's extreme / Come on look at me / How much more can I take" und so weiter. Manche Titel brettern schnell und unbemerkt dahin, andere sind so langsam und trantütig, dass sie keine große Aufmerksamkeit einfordern. Dabei beginnt die Platte so direkt, fordernd und krachend, dass Melissa sich vor der Veröffentlichung Sorgen machte. Sie war sich unsicher, ob sie ihren Hörern den kurzen und ungewöhnlichen Opener "The Medicine Show" zumuten könne, gerade weil er untypisch für den Rest der Platte ist.
Sehr flexibel wechselt Melissa die Pferde, reitet dort erst auf "Ieh-ai-ieh-ai-ho", dem Western-Slogan aus dem Kinder- und Lagerfeuerlied "Old Mac Donalds Had A Farm" und entfacht Stadionrock-Vibes. Dann schlägt sie für wenige Songs die taktische Kurve ein, mit der sie schon früher "Bring Me Some Water" und weitere Hits gestaltete, Gitarrenstücke mit heiserem, aber umso lauterem Refrain.
"Shaking" reimt die Etheridge auf "Hold me, honey, I'm still aching" und lotet eine breite Dynamik aus Schlagzeug-Feuerwerk und leisen Passagen, eine Spannung zwischen Hardrock-Mainstream-Gitarren und dissonanten Grunge-Harmonien aus. "Faded By Design" und "Love Will Live" repräsentieren die 'klassische', gewohnte Etheridge mit den ordentlich eingängigen Hook Lines. Bricht die Hook Line los, als fielen alle Mauern, dann ist es Melissa: Das war früher ihr Markenzeichen, woran man sie sich erkannte, wenn sie im Radio lief.
Es überzeugte dabei schon immer ihr Unperfektes, etwa dass ihre Stimme so böse klingt, als braue eine Hexe K.O.-Tropfen und reibe dabei Zaubersprüche an ihren Stimmbändern. Auf Americana-Songs wie "Wild And Lonely" zündet diese Rezeptur auch heute. Was nach hinten hinaus auf "The Medicine Show" passiert, unterscheidet sich von der Etheridge der Anfangsjahre. Gleichmäßigere, dann auch sehr ruhige und schließlich zu ruhige Titel folgen. Bis auf "Skin" enthielt keine ihrer zuvor 14 Platten eine solch penetrante Fülle an ruhigen Passagen.
Schon vor der Mitte ist Schluss mit der Rock'n'Roll-Show, es sind Balladen angesagt. Bereits das mit Streichern überzuckerte "I Know You" hält sich zurück. Mit"This Humain Chain" und "Love Will Live" kommen zwei melancholische Stücke, wobei in "Love Will Live" die E-Gitarre dominiert und der Trick 'ekstatischer Refrain' nochmal richtig gut funktioniert. Die letzten zwölf Minuten von Melissas Medizinshow mäandern einigermaßen unaufgeregt, auch unspektakulär, erfinden musikalisch nichts Neues und klingen schläfrig. Die Lieder "Here Comes The Pain", "Suede" und "The Last Hello" fordern den Kampf des Hörers gegen innerliches Abschalten gefährlich heraus. Weder Aufdrehen im Wohnzimmer noch Anhören beim Joggen via Kopfhörer funktionierten. Dabei lässt sich gerade dem letzten Titel "Last Hello" viel abgewinnen, wenn die beiden vorherigen Songs ihre Anästhesiewirkung noch nicht entfaltet haben:
"What started fast as confusion, is turning into revolution / What can I do, what can I be? / No child should see, what I have seen / How was I to know? - That was our last 'hello'" beklagt sie wohl den Tod einer Liebespartnerin. Schlagzeugknattern und lang gehaltene Choral-Gesangstöne beenden den Song und das Album inbrünstig. Es bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack. Wenig Freude kommt bei der Platte auf: Dissonante Zwischentöne aus sehr deprimierenden Lebenserfahrungen stecken darin, ohne dass diese immer klar ausformuliert würden.
Alles bleibt im 'Irgendwie', ohne dass man als Hörer daraus direkt kathartische Effekte wie Trost oder entladene Wut ziehen könnte. Auch eine Zeile zum Mitsingen wäre schön, und die zwei, drei richtig funkelnden Rockdiamanten, die bisher jedes Album von ihr garantierte, bleibt diese Scheibe schuldig. Andererseits bereichert die Etheridge das musikalische Gesamtangebot, weil sie an etlichen Stellen unangepasst klingt, weil sie mit sehr viel Druck und Drang singt. So möchte man diese CD auch nicht missen. Sie an einem Stück zu genießen scheint unmöglich, doch einzelne Songs dann und wann einzulegen, dafür lohnt sich "The Medicine Show".
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