laut.de-Kritik

Frei von Dogmen, frei von Klischees.

Review von

"The Omnichord Real Book" überrascht. Wie jede Platte der Sängerin mit dem Swahili-Namen Ndegé'Ocello, den sie sich einst selbst gab. Sie spielt trotz dieses Namens immer noch kein Cello, dafür Keyboards, E-Gitarre, gelegentlich Schlagzeug und in erster Linie elektrischen Bass. Genres blieben ihr stets einerlei. Sie rührt auch 2023 wieder zusammen, wie's ihr beliebt, eklektisch, funky, geschmack- und druckvoll.

Jetzt schwenkt sie zum Jazz, wie sie's neben Hip Hop, Urban-Electro, R'n'B, Folk-Funk und vielem anderen schon einmal tat, damals jedoch viel eindeutiger. Dieses Mal ist ihr Jazz für Leute gemacht, die am Jazz weder Attitüde noch cleane Perfektion mögen, weder verfranste Improvisation noch die stiff upper lip-Ausgrenzung seitens humorloser Geschichtsbewahrer im Gewand der Jazz Police. Trotzdem erscheint das "Omnichord Real Book" wie ein massives Statement auf dem historischen Label der Traditionalisten-Trios, auf Blue Note. Als Doppelalbum, mit 18 Tracks.

Der längste Tune, "Virgo", läuft knapp neun Minuten, der kürzeste 27 Sekunden – "Tha King ft. Thandiswa Mazwai". Thandiswa, in der Sprache Xhosa auch in "Vuma" vertreten, kennt, wer von der Fußball-WM 2010 den gesamten Eröffnungsabend gesehen hat. Meshell hält sich in "Vuma" gesanglich zurück, während sie den Kauderwelsch-Rhythmus der perkussiven Mbaqanga-Musik mit einer hauchfeinen Schicht von hymnischem Pop anreichert. Das erinnert ein wenig an Vampire Weekend, Aneignung wird man Ndegeocello trotzdem nicht vorwerfen können. Interessiert hat sie sich immer für andere Kulturen, und außer dass hier ihr Name drauf steht, kann man das Lied eher als verirrtes Einzelstück auf einer Compilation einordnen, als dass sie hier irgendwie die Tradition zerpflücken würde.

Jazz relativiert sich hier selbst. Song-Strukturen dominieren im "Real Book", Impro-Freestyles fließen ganz am Rande ein. Viele weitere Gäste treten auf, darunter Joan As Police Woman im zerbrechlichen "Gatsby" - warme Lounge-Kost, ausnahmsweise gefällig, allerdings auch ein Tune, der kaum haften bleibt.

Meshells Werke entfernen sich denkbar und spürbar weit von jeglichen Dogmen, wie man Songs schreibt, aufführt, sich vermarktet, eine Single auskoppelt, usw. Auch jetzt klappt das wieder gut. Im Rückblick kaum zu glauben, dass sie auf Madonnas Label durchstartete. Dieses alte Freiheits-Versprechen und das Denken vor dem Komponieren löst sie jetzt wieder ein. Dabei entstehen lauter klischeefreie und intensive Stücke, die man in Ruhe hören muss. Alles andere hilft da nicht, "The Omnichord Real Book" bietet weder Radio-Hooks noch Stories in den Session-Videoclips - nichts, woran sich Pop-Ohren halten können, um den Weg durch die spannenden Grooves zu finden. Genau genommen sind viele Tracks hier exakt die Musik, für die ich hunderte Platten im Jahr 'testhöre', in der Hoffnung genau sowas zu finden, um dann doch fast immer in der Konvention zu stranden.

Okay, "Clear Water" zitiert irgendeinen relativ bekannten Funk-Klassiker mit den Lyrics "thank you for my life (thank you)" aber so geschickt dass mir nach langem Grübeln und Googeln nicht einfällt, welcher von wem (Isley Brothers?). Weitere Orientierungspunkte? – Fehlanzeige! Dabei nehmen "Real Books" sonst eigentlich expliziten Bezug auf schon existierende Stücke. Michelle fordert ihr Publikum mit Originalität. Das kann man nicht hoch genug schätzen in unserer Sample-, Retro- und Retorten-Ära.

In der Bandbreite zwischen sphärischem Piano-Neo-Soul ("Perceptions ft. Jason Moran"), Ambient am Klavier ("Onelevensixteen"), Vibraphon-Turnübungen in zauberhafter Akrobatik ("Towers ft. Joel Ross"), pulsierendem Electro-Future-Soul ("Georgia Ave ft. Josh Johnson", "Omnipuss"), Acapella-Beatboxing-Reduktion ("Hole In The Bucket ft. The HawtPlates") und R'n'B für Fortgeschrittene, for advanced listeners ("Burn Progression" - Anspieltipp!) ereignet sich viel.

Vergleichsweise ziel- und formlos mäandernde Abschnitte, zum Beispiel das fragmentarische "Call The Tune", das wie eine Aufwärmübung wirkt, bremsen den Flow - einziger Kritikpunkt. Davon abgesehen, werden alle strahlen, die offen für Elektronik-Zwischentöne im Backbeat-Milieu sind, auf was Erfrischendes warten und schon kürzlich bei Janelle Monáe umsonst Tiefe und Spannung ersehnten.

Während Ndegeocello auf ihren kürzeren Strecken gerne in zerfließenden und gedehnten Keyboard-Klirr- und Wabbeltönen abtaucht ("An Invitation" - Anspieltipp!) oder fiebrige Electrosoul-Psychedelic als Instrumental inszeniert ("Omnipuss" - noch ein Anspieltipp), beeindrucken die langen Tracks genauso: "The 5th Dimension ft. The HawtPlates", als bearbeite Robert Glasper an seinen dschungeligen Drums was aus den 90ern von Princes New Power Generation und lasse Platz für ein herzzerreißendes Saxophon-Solo.

"ASR ft. Jeff Parker" macht es einem durchs verquaste Intro erst schwer, kehrt sich dann aber ins eingängigste Stück der Scheibe um. Es hat ein stabiles Merkmal, die Percussion ab der zweiten Minute. Darüber wandern in einer Post-Rock-Metamorphose gemütlich und sukzessive ihre Stimme, dann eine männliche, beide im Duett, orgiastische Keyboard-Reverbs, eine durchdringende E-Gitarre, ... bis der Song im Fade-Out verrinnt, obwohl er gern auch länger als 7 Minuten 30 dauern dürfte. Schrill, aber genial p-funkt das fast ebenso lange Beinahe-Instrumental "Virgo 3" durch die Schlusskurven der CD - mit Brandee Younger (ziemlich alternative Harfenspielerin), Josh Johnson (charakteristischer Saxophonist, den man sich merken sollte, Producer der LP) und Mark Guiliana, einst Drummer an der Seite Brad Mehldaus und Avishai Cohens.

"The Omnichord Real Book" ist wie ein Buch, in dem man vor und zurück blättern und immer wieder was Neues entdecken kann.

Trackliste

  1. 1. Georgia Ave ft. Josh Johnson
  2. 2. An Invitation
  3. 3. Call The Tune
  4. 4. Good Good ft. Jade Hicks, Josh Johnson
  5. 5. Omnipuss
  6. 6. Clear Water ft. Deantoni Parks, Jeff Parker, Sanford Biggers
  7. 7. ASR ft. Jeff Parker
  8. 8. Gatsby ft. Cory Henry, Joan As Police Woman
  9. 9. Towers ft. Joel Ross
  10. 10. Perceptions ft. Jason Moran
  11. 11. Tha King ft. Thandiswa Mazwai
  12. 12. Virgo ft. Brandee Younger, Julius Rodriguez
  13. 13. Burn Progression ft. Ambrose Akinmusire, Hanna Benn
  14. 14. Onelevensixteen
  15. 15. Vuma ft. Thandiswa Mazwai
  16. 16. The 5th Dimension ft. The HawtPlates
  17. 17. Hole In The Bucket ft. The HawtPlates
  18. 18. Virgo 3 ft. B. Younger, Josh Johnson, M. Guiliana

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