laut.de-Kritik
Die Lüge erzählte die bessere Story.
Review von Sven KabelitzEs gibt Lügen, die wollen wir einfach glauben. Selbst, wenn sie längst als solche enthüllt wurden. Weil sie schlichtweg die besseren Geschichten erzählen. So denkt weder beim Release des Films "Girl You Know It's True" noch beim Album "The Best of Milli Vanilli (35th Anniversary)" irgendwer an die Namen John Davis, Brad Howell, Gina Mohammed, Ray Horton, Linda Rocco oder Jodie Rocco-Hafner. In bester Fake News-Tradition sehen wir bei den Stimmen sofort alle Rob Pilatus und Fab Morvan vor uns. Ihre Gesichter bleiben auf ewig mit Songs wie "Girl You Know It's True" oder "Blame It On The Rain" verknüpft. Sie waren quasi Vorreiter unser heutigen Musik-, Politik-, und Social Network-Kultur. In Zeiten von Autotune und CI erscheint die damalige Aufregung um Milli Vanilli geradezu lächerlich.
Sie waren schon damals wahrlich nicht die einzigen, die nicht selbst sangen. Erinnert sich noch jemand an Den Harrow, dessen Stimme auf dem dritten Album plötzlich komplett anders klang? Insgesamt verbrauchte der Italiener über die Jahre ganze vier Sänger. Auch Technotronics "Pump Up The Jam" sang nicht wirklich das im Video zu sehende Model Felly Kiling. Die Liste ist lang, und gerade beim Produzenten Frank Farian, der bekanntlich bereits bei Boney M. ordentlich schummelte, hätte man schon früh hellhörig werden können. Dort sangen weder Bobby Farrell noch Maizie Williams.
Am Ende waren es wohl der große Erfolg, der Grammy-Award und die Härte, mit der unser Traum platzte und wir unsere eigene Naivität vorgeführt bekamen, die ausgerechnet aus der Milli Vanilli-Geschichte den Skandal formte. Einen Skandal, unter dem genau zwei Personen den Rest ihres Lebens leiden sollten: Rob & Fab. Viele weitere, allen voran der an dem Schlamassel schuldige Farian, kamen mit einem blauen Auge davon. Milli Vanilli hatten ihre Schuldigkeit getan, Milli Vanilli konnten gehen.
Dabei hätte sich all dies verhindert lassen, hätte Farian nicht auf seinen altbewährte Gaukelei zurückgegriffen. Zu Beginn hätte man noch die Chance gehabt, auf die eigentlichen Stimmen zu setzen. Doch der Gesang der Tänzer Morvan und Pilatus bestand - damals zurecht - nicht Farians Prüfung. Dabei zeichneten die "real" Milli Vanilli auch nicht sonderlich ihr großartiger Gesang und ihre Raps aus. Das 1993 erschienene Album "Rob & Fab" zeigte, dass die beiden das mit etwas Geduld und Hilfe aber durchaus auch selbst hätten hinbekommen können. Man entschied sich aber bewusst für diese Räuberpistole, und bevor irgendwer auch noch an das Wort "Stop!" denken konnte, hatte Farian bereits das erste Album "All Or Nothing" fertigproduziert. Es hatte schon einmal funktioniert, was sollte schon schief gehen?
Dies soll die beiden Tänzer in keinster Weise von jeder Schuld freisprechen. Gerade Pilatus verlor mit der Zeit mehr und mehr an Bodenhaftung, verglich sich bei den Grammy-Awards mit Paul McCartney, Elvis Presley, Mick Jagger und Bob Dylan. Mit diesem Erfolg hatte jedoch auch niemand gerechnet. Innerhalb kürzester Zeit hob der Ballon ab, füllte sich mehr und mehr mit Lügen, bis er letztendlich lautstark platzte. Farian, der den beiden Rückendeckung zugesichert hatte, sollten sie jemals auffliegen, lieferte sie nun selbst ans Messer. Die Marionetten mussten durchs Kreuzfeuer, während er sich dünne machte. Wahrlich kein schönes Märchen, dem seit dem Tod von Pilatus jede Chance auf ein Happy End fehlt und bei dem der eigentliche Bösewicht ungeschoren davonkam. Stattdessen dürfte er mit "The Best of Milli Vanilli (35th Anniversary)" wieder ein paar Euro einkassieren.
Wobei wir bereits beim nächsten Schwindel wären. Inwieweit kann man ein Album einer Band, die es gerade einmal auf zwei Veröffentlichungen brachte ein "Best Of" nennen, wenn dazu größtenteils nur Lieder des ersten Longplayers und dessen U.S.-Remixe genutzt werden? Wäre es im Umfeld des Films nicht eine Chance gewesen, den Nachfolgern und den eigentlichen Musiker:innen etwas mehr Platz zu schenken? Vielleicht sogar dem Nachfolgeprojekt Rob & Fab? Einfach ein bisschen mehr Respekt den Beteiligten gegenüber einfließen lassen, als das eigene Produkt ihnen damals schon wert war?
Am Ende soll aber nur die Musik zählen, und die krankte schon damals an ihrer Fließbandproduktion. "Girl You Know It's True" funktioniert auch heute noch, stellt aber nichts weiter als ein recht originalgetreues Cover des damals in der Club-Szene bekannten Numarx-Songs dar. Das zu der Zeit allgegenwärtige Drum-Sample aus The Soul Searchers "Ashley's Roachclip" zieht sich allgegenwärtig durch die Tracks. Drei der ersten fünf "All Or Nothing"-Singles nutzen ihn. Greift Farian einmal nicht darauf zurück, hält er sich dennoch an dessen Rhythmus. Selbst in der reichlich mager gesungenen und gerappten Ballade "I'm Gonna Miss You". Erst "Keep On Running", die letzte Single, die Sekunden vor dem Platzen der Blase erschien, nutzt mit Snap!s "Cult Of Snap!" eine neue Vorlage. Ein Song, der nahelegt, dass es sich mit der steilen Kariere der beiden wahrscheinlich eh bald erledigt gehabt hätte.
Kein Wunder, dass sich so schnell Eintönigkeit breit macht. Farian begnügte sich damit, die "Girl You Know It's True"-Formel zu reproduzieren. Sich selbst dessen bewusst, setzte er für den U.S.-Remix des Albums auf andere Songwriter:innen. Gerade das von Diane Warren geschriebene "Blame It On The Rain" ist großes Musiktheater und Milli Vanillis bester Song. "Take It As It Comes" stammt aus der Feder von Climie Fisher ("Love Changes (Everything)").
Vieles auf dieser Best-Of erschien jedoch schon 1988 so verzichtbar wie heute. Der Einfachheit halber kramte Farian noch einmal Boney M.s "Ma Baker" aus. Was immer noch erträglicher ausfiel als das Cover von Billy Joe Royals "Hush", das Deep Purple zu ihrem ersten Hit formten. Gerade wenn man die beiden Versionen vergleicht ... gruselig. Für "Money" musste dann noch schnell ein Sample der Kasse aus dem Pink Floyd-Klassiker herhalten. Glücklicherweise hat das Lied sonst nichts mit dem "The Dark Side Of The Moon"-Stück zu tun. In jeder Minute merkt man diesen Songs an, dass sie nur schnell und lieblos zusammengebasteltes Füllmaterial darstellen.
Bereits vier Jahre nach Milli Vanilli landete Frank Farian mit La Bouches "Sweet Dreams (Ola Ola e)" einen Top Ten-Hit. Ein Jahr später kletterte "Be My Lover" auf die Pole. Erfolge mit No Mercy, Chilli feat. Carrapicho und Daniel Lopes folgten. Für Fab Morvan und Rob Pilatus blieb nur der Spott. Während sich La Bouches "You Won't Forget Me" zwanzig Wochen in den Charts tummelte, hoffte Rob Pilatus bei einem Treffen mit Farian auf ein neues Projekt der alten Truppe. Stattdessen starb er in einem Hotel in Friedrichsdorf an Herzversagen, die Folge einer Überdosis Alkohol und anderen Drogen. Er wurde 33 Jahre alt.
2 Kommentare mit 2 Antworten
Dass FF ungeschoren davonkam, ist der eigentliche Skandal. Die Musik kann man mehrheitlich vergessen.
Dumm nur das sie keine Ahnung haben . In vielen Filme haben die Schauspieler so getan als würden sie singen. In Wirklichkeit haben Studiosänger die Parts gesungen. Und zwar immer dann wenn die Stimme der Schauspieler nicht geeignet war.
Übrigens. diesen Kommentar kann man auch mehrheitlich vergessen.
Wusste gar nicht, dass die mehr als einen Song hatten. Aber der eine, den ich kenne, war wenigstens ein Hit. Kann ich noch heute auswendig mitsingen. Girl you know it's girl you know it's girl you know it's girl you know it's girl you know it's...
Aber Moment mal.
Den Harrow hat nicht selbst gesungen?
DER WAR ITALIENER???