Der gemeinsame Song "Geschlossene Augen" zeigt es erneut: Der Ex-Spießerschreck ist endgültig in der Schmachtfetzenhölle angekommen.

Berlin (dani) - Eigentlich hätte es keines weiteren Beweises bedurft, die Entwicklung zeichnet sich ja seit Jahren ab: Sido, ehemals der Schrecken aller kleinbürgerlichen Spießer, ist endgültig in der Schmachtfetzenhölle angekommen. Zusammen mit Nico Santos, der (Obacht, Verwechslungsgefahr!) hier nur unter der zweiten Hälfte seines Künstlernamens firmiert, stimmt er ein kreuzbraves Liebesliedchen an. Wobei, "zusammen" ... Wirklich zusammen fanden die beiden ja noch nicht einmal für den Videodreh, wie es aussieht. Ihre Stimmen sind halt irgendwie auf demselben Track gelandet, an dem das mit weitem Abstand beste sein Titel ist: "Geschlossene Augen", ja, die kommen mir angesichts des Gebotenen wie eine gute Idee vor. Feste zukneifen also, und durch:

Die Trommelfelle hätte ich mir besser gleich mit durchgeschossen: Was, um alles in der Welt, war das denn? Fairerweise muss man sagen: Eigentlich genau, was diese Künstler-Kombination erwarten ließ, und vom Fließband im Hause Beatzarre & Djorkaeff läuft genau der richtige, weil ebenfalls komplett absehbare Beat dazu. Es ist eine Ballade, es ist dramatisch, da brauchen wir ... was? Klavier, genau. Bisschen dicken Bass dazu, alles hübsch auf Hochglanz poliert, ergibt das absolute Standard-Stangenware.

Immerhin ist es also nicht schade um einen spannenden Beat, wenn Nico Santos und Sido über diesen Schmachtfetzen von einem Instrumental ihre Schmalzstulle schmieren. Ich wiederhole mich eigentlich ungern, die Fassungslosigkeit springt mich aber angesichts jeden neuen Sido-Tracks mit frischem Wumms an: Der Sido aus "Strassenjunge"-Zeiten hätte gar nicht genug Speichelkapazitäten, so ausgiebig würde er auf den Sido von heute spucken wollen. Wie anbiedernd an den Formatradio-Mainstream kann ein Song sein? Sido und Nico Santos schreien: JA!!!, und die Fans, so es denn keine vom Label gekauften Claquer*innen oder irgendwelche Bots sind, die da kommentieren, feiern diesen einfallslosen Mist wie eine musikalisch-lyrische Marienerscheinung.

Hammer Text, Gänsehaut pur!

Noch viel mehr als die langweilige Produktion empören mich tatsächlich diese lieblos aus Phrasen aus dem Textbausteinkasten zusammengeschissenen Zeilen, an die Nico Santos seine von der Klangfarbe her ja eigentlich interessante Stimme und sein Gesangstalent und Sido seine Rapskills verplempert. Okay, letztere waren schon immer bestenfalls drittklassig, früher hat er das halt mit Entertainer-Qualitäten wettgemacht. Also gucken wir uns doch diesen "Hammer Text" einmal an, der den Leuten "Gänsehaut pur" beschert. Das wird "krass" und "megaschön", ich versprechs euch.

"Ich hätte mich auch mit geschlossenen Augen in dich verliebt", schluchzt Nico Santos da die Hook über die tragischen Pianonoten und klingt dabei wie das personifizierte Leiden Christi. Dazu immerhin passt das Singlecover - so sehen also glücklich verliebte Jungs aus:

Wer bekäme da nicht instantan Lust auf eine kleine Liebelei? Nein, Gefühle sind kein Spaß. Dass Nico Santos sich im Video dann direkt selbst facepalmt, versteh' ich: "Ich spür' es unter der Haut, hunderttausend Kilometer tief." Alle Steilvorlagen, von wegen wie dick wohl diese Haut sein muss, lass' ich heute mal liegen, sonst kommen gleich wieder irgendwelche aufgeregten Pummelrapperjünger mit Belehrungen des Kalibers "Das ist Bodyshaming, du fette Fotze" ums Eck.

Megaschöne Message!!!

Dafür haben wir auch gar keine Zeit, dieser Chorus hat ja noch eine Line: "Alles ist schön an dir, auch was man nicht sieht." Ah, yeah. Wow. Das muss wohl diese "megaschöne Message" sein, die sie in den Kommentaren rühmen: Es kommt auf die inneren Werte an, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Ist ja auch vorher noch nie jemand drauf gekommen, das kann man schon noch einmal mit langweiligeren Worten sagen.

Danach hoppelt Sido los und erzählt eine Geschichte, die in ihrer Schablonenhaftigkeit öder wirklich nicht geraten könnte: Junge trifft immer das falsche Mädchen, bis irgendwann das richtige kommt. Happy End. Ja, Freund*innen der Nacht, das ist alles. Keine Pointe. Auch keine Details, um diese Standard-Kacke wenigstens irgendwie zu personalisieren. Statt dessen das selbst in Schlager-Kontexten wahrhaftig schon bis zur Unkenntlichkeit ausgesaugte Bild: "Doch da bist du und ich fang' an zu fliegen." Fly me to the moon, Astronaut. Hast du noch mehr?

Ei, sichi: "Gefühle wie in einem Liebesbrief, handgeschrieben." Mensch, so viel authentische Emotion, da sollte man doch meinen, dass ein Rapper, als solcher gilt Sido ja immer noch, also jemand, der Worte zu seiner Ausdrucksform erkoren hat, ein bisschen ins Detail geht und versucht, diese Fühlis dann auch zu benennen, zu be- und umschreiben. Oder? Aber, ach, dann kommt solches dabei heraus: "Jetzt bin ich auf meine Augen nicht mehr angewiesen, ich kann sie schließen, denn ich kann dich riechen." Alle, in deren Köpfen es da nicht grölt: "Schon über Deo nachgedacht?", sind ... wahrscheinlich irgendwie romantischer unterwegs als ich.

Baukasten-Text aus dem Textbaukasten

"Ich mach' die Augen zu und sehe alle deine Farben, dein Leid, deine Feinde, deinen Schaden und die Narben, denn wir senden mit Antenn'n, das heißt, keiner braucht Kabel, nur weil das so schön geprickelt hat in meinem Bauchnabel." Textbausteinkasten, ich sags ja, und offenbar derselbe, in den auch Dame, Sarah Connor, Helene Fischer und Werbeslogan-Createur*innen von Weißbier-Reklame greifen. (Was genau Sido mit Kabeln in seinem Nabel Prickelndes anstellt, möchte ich übrigens gar nicht detaillierter wissen, danke.)

"Als wenn wir Magneten wär'n", yeah, Anziehung, kennste, kennste? "Vom selben Planeten wär'n": Als ob? Als ob ihr vom selben Planeten wärt? Wo datete Sido denn sonst so? Auf Vogsphere und Inferna Prime? "Der Blick in die Seele noch tiefer als bis zum Gehtnichtmehr": Hä? ... ah: "Worte sind nicht der Rede wert", das stimmt. Jedenfalls nicht, wenn man ihnen auf zehn Meilen Entfernung anmerkt, dass niemand auch nur ansatzweise so tut, als wären ins Formulieren wenigstens drei Minuten Mühe geflossen. "So komisch, wie das klingt, wenn niemand redet, versteh' ich mehr." Ja, dann, Vorschlag zur Güte: Maulhalten?

Fotos

Sido

Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer) Sido,  | © laut.de (Fotograf: Chris Springer)

Weiterlesen

laut.de-Porträt Sido

"S wie der Stress, den du kriegst wenn ich am Mic bin. I wie 'Du Idiot!' Mich zu battlen wär' Leichtsinn. D wie die Drogen, die ich mir täglich gebe.

laut.de-Porträt Nico Santos

Schon im Alter von zwei Monaten hat es Nico Santos geschafft. Er entkommt dem grauen Bremen und wächst fortan im 17. Bundesland der Deutschen, Mallorca …

4 Kommentare mit einer Antwort