laut.de-Kritik
Ein handverlesenes Paul McCartney-Mixtape auf vier CDs.
Review von Michael SchuhSeine aktuelle Tournee gleicht einem Triumphzug. Alle wollen die lebende Legende Paul McCartney sehen. Und der bald 74-Jährige gibt dem Volk, wonach es dürstet: Songs aus all seinen Schaffensphasen. In Düsseldorf spielte er 38 Songs in 160 Minuten. Popgeschichte in zweieinhalb Stunden. Erster Song: "A Hard Day's Night". Letzter Song: "The End". Wie es der Songwriter aber geschafft hat, nach dem Beatles-Split 1970 seine Pop-Spitzenposition jahrezehntelang zu verteidigen, davon legt "Pure" eindrücklich Zeugnis ab.
"Pure" ist keine Best Of-Scheibe im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Spotify-Playlist von McCartneys eigenen Lieblingssongs aus 46 Jahren. Ein Macca-Mixtape, handverlesen. Die vorliegende 4-CD-Box ist in dieser Hinsicht natürlich aussagekräftiger als die abgespeckte Doppel-CD. "Mein Team und ich hatten keinen großartigen Plan für diese Sammlung, außer dass es Spaß machen sollte, die Platte anzuhören. Also setzten wir uns zusammen und am Ende hatten wir diese buntgemischten Playlists aus den unterschiedlichen Phasen meiner langen und ereignisreichen Karriere", erklärt McCartney das Projekt (er sagt tatsächlich "of my long and winding career").
Was also findet dieser Jahrhundertkünstler selbst super? Spannende Frage. "Hope Of Deliverance" glücklicherweise schon mal nicht. Eine mutige Entscheidung, kurbelte der oberflächliche Popsong seine Chartskarriere Anfang der 90er Jahre doch maßgeblich wieder an. Gleichwohl zeigt natürlich auch er, welches untrügliche Gespür für Melodien der Mann besitzt. Alleine schon wenn man den Songtitel ausschreibt, hat man den Refrain wieder im Ohr. Paul McCartney hat 67 andere Songs ausgewählt.
Beginnen wir gleich mal mit den 80ern. McCartney begrüßt das neue Jahrzehnt als Solokünstler, die Wings sind schon so gut wie Vergangenheit. "Waterfalls" stammt von seinem 1980er Album "McCartney II". "Don't go jumping waterfalls / please keep to the lake" singt er zart zu seiner Fender Rhodes. 14 Jahre später veröffentlichen TLC einen gleichnamigen Song und allein schon deren Refrainzeile "Don't go chasing waterfalls / Please stick to the rivers and the lakes that you're used to" erfordert wenig Fantasie in der Frage, wo sich die drei Damen da mehr als sachte haben inspirieren lassen. Wenn schon abkupfern, dann macht das der Chef lieber selbst: Im hohen Chorgesang von "Every Night" etwa schwingt die Melodie von "You Never Give Me Your Money" mit. Ursprünglich ist er auch ungefähr so alt, da er in den "Get Back"-Sessions zumindest angespielt wurde.
Dann, 1983: Auf das weltberühmte Duett "Say Say Say" mit Michael Jackson wollte McCartney nicht verzichten, was aus zweierlei Hinsicht bemerkenswert ist. Zum einen bestand McCartney für "Pure" auf einer Alternativversion, die einen Remix des legendären 80s-Pop-DJs John "Jellybean" Benitez mit neuen Gesangsspuren von ihm und Jacko verbindet, die erst 2015 gefunden wurden. Zum anderen ist der Name Jackson für McCartney nach wie vor mit der traurigen Erinnerung verbunden, dass Jacko ihm 1985 die Rechte an allen Beatles-Songs wegschnappte, nachdem er selbst den Amerikaner erst darauf aufmerksam gemacht hatte, wie wertvoll Songrechte sind.
Wie für so viele altgediente Rockstars waren die 80er aber auch für McCartney nicht das günstigste Jahrzehnt. Drei Jahre nach "Say Say Say" sah auch er langsam kein Land mehr. "Press" war die Leadsingle von "Press To Play", bis heute eins der schlecht verkauftesten Alben seiner Karriere. Die deutliche Anbiederung an den von Stock Aitken Waterman diktierten Charts-Zeitgeist merkt man der Single leider an. Von solch kommerziellen Gesichtspunkten unbeeindruckt, stellt Paul seinen Fans vom selben Album auch "Good Times Coming/Feel The Sun" vor, ein trotz des rockigen zweiten Teils gesichtsloses Funk-Liedchen, das einem in diesem 67-Song-Zusammenhang aber die Tücken und Gefahren eines derart langen Karrierewegs gut vor Augen führt.
Es soll hier ja auch darum gehen, neue tolle Songs oder eben obskure zu entdecken: Zu letzterer Kategorie zählt ganz sicher die Single "We All Stand Together", die unter Fans auch als "The Frog Song" bekannt ist, weil sie 1984 für den britischen Zeichentrickfilm "Rupert And The Frog Song" komponiert wurde. Eine Art "Do They Know It's Christmas" für Kinder.
Die vor allem im direkten Vergleich mit dem vermeintlich intellektuellen Ex-Partner Lennon gerne herangezogene Beschreibung McCartneys als Pop-Softi ist dennoch bösartiger Natur, die Songwriting-Spannbreite des Briten ist einfach enorm. Im Prinzip zeigt sich dies schon zu Beginn der ersten CD: Von den dunklen Mollakkorden des eröffnenden "Maybe I'm Amazed" geht es bruchlos über in den federleichten, manche würden sagen nachlässigen Pop von "Heart Of The Country", der die Kunst von McCartney praktisch in zwei Songs erklärt. Auf dem schmalen Grat zwischen Formatradio-Material und perfektem Pop landete er meistens auf der richtigen Seite.
Man höre nur "Dear Boy": Der Melodienwahnsinn, der diesem Mann zu Eigen ist, äußert sich hier in voller Brillanz. Innerhalb eines Kanons spinnen Hauptmelodie und Backgroundgesang einen feinen Kokon, alles strebt auseinander und doch hält es einer zusammen: Big Paul on the piano, nämlich. Der Song seines 1971er Albums "RAM" beinhaltet eine Zeile an den Ex-Mann seiner Frau Linda McCartney, der es angeblich nie zu schätzen wusste, was er an ihr hatte. Selbstredend bezog ein gewisser John Lennon diese Zeile auf sich, die Beatles-Trennung war ja noch taufrisch.
Oder die Streicherballade "Uncle Albert", die nach der Hälfte in den zweiten Teil "Admiral Halsey" übergeht, einem swingenden Gipsy-Part, in dem McCartney mit Kopfstimme comicartig herumspielt, bevor die eingängige Zeile "Hands across the water" mehrstimmig alle Aufmerksamkeit auf sich bindet. Die Technik, scheinbar unzusammenhängende Teile miteinander zu verweben, hatte McCartney gerade im Vorjahr auf "Abbey Road" perfektioniert. "Another Day", die erste Macca-Single nach dem Beatles-Split versprüht mehr Harmonie, als aufgrund der damals heißen Luft um die Trennung zu vermuten gewesen wäre. Für MacCartney bricht hier nicht nur ein neuer Tag an, sondern ein neues Leben. Toller Song, geschrieben noch in der späten Beatles-Phase.
An "Too Many People", einer an sich harmlosen B-Seite desselben Jahres, liegt dem Musiker offensichtlich auch viel. Ob es rückblickend an der diesmal wirklich mit Lennon und Yoko Ono im Sinn geschriebenen Zeile "too many people preaching practices" liegt, die seinen damaligen Frust über das Liebespaar ausdrückte?
Spielt keine Rolle: Macca pumpt weiter Tracks aus allen Jahrgängen. Der frühe Wings-Song "Bip Bop", die pompöse Cheerleader-Nummer "Jet", der offenkundig unter dem guten Einfluss von ELO-Boss Jeff Lynne geschriebene 90er Jahre-Rocker "Flaming Pie", das experimentelle "Appreciate" vom aktuellen Album "New" und - selbstverständlich - das unzerstörbare "Live And Let Die".
Auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich Perlen: "Jenny Wren" von 2005 ist der legitime Nachfolger von "Blackbird" und zwar nicht nur aufgrund des Fingerpicking-Stils - ein ganz großer McCartney-Moment. Die traurige Ballade "Too Much Rain", ebenfalls vom tollen Album "Chaos And Creation In The Backyard" zieht er dem für meine Begriffe noch zauberhafteren "At The Mercy" vor - geschenkt.
"Arrow Through Me" von 1979 hätte dagegen das coole Duett mit Michael Jackson werden können. Völlig lässig grooven die Wings hier kurz vorm Ende eine Soul-Pop-Nummer ein. Nebenbei göttliche Vocals von Sir Paul. Definitive Song-Entdeckung dieser Mega-Edition.
Sein Album "Kisses On The Bottom" von 2012 bestand fast ausschließlich aus Coverversionen des "Great American Songbook", dessen Esprit auch die Ballade "My Valentine" ausstrahlt, mit dem Unterschied, dass McCartney sie selbst geschrieben hat und Eric Clapton als Gastgitarrist hinzuholte. Macca ist eben sein eigenes Classic Songbook. Möge er uns noch lange erhalten bleiben und gerne das Level des letzten Albums "New" aufrechterhalten.
3 Kommentare mit 2 Antworten
schön, dass auch die fireman-sachen berücksichtigung finden. ich persönlich halte ja "electric arguments" für das beste album seiner post-beatles-karriere.
Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.
Ein wahres Wort! Leider auf aktuellen Tour vollständig ignoriert...
Paul McCartney !!!
Appreciate.
Roboternachtwächter im Museum, das Video ist perfekt.
Ein Tip für Altanaloge, warten bis Paul den ersten Ton spielt,
dann Augen zu und nur noch den Song hören. Super.
Schöne, teils launische Zusammenstellung. Gut ist, dass im Gegensatz zu den Live-Alben die abgenudelten Beatles-Songs hier nicht stattfinden. Schade ist, dass die 80er-Sythies für mich das Gesamtwerk zu sehr trüben, weswegen ich dann doch bei den neueren Live-Alben bleibe, auch wenn die ebenfalls nicht astrein sind. Bei Macca hat man meist die Wahl zwischen Pest und Cholera.