laut.de-Kritik

Er kennt den Schmerz und vergibt seinen Dämonen.

Review von

"Warum kann ich nicht einfach alles abschütteln, was ich je getan hab'? Warum kann ich mich nicht komplett verändern? Ein anderer Mensch sein? Alles vergeben? Oder überhaupt nicht mehr dran denken?" Im Leben von Mike Hadreas ist wohl vieles passiert, das Vergebung erfordert, gegenüber seinen Peinigern, aber auch sich selbst.

Man sieht es ihm nicht an, aber Hadreas ist schon fast 40 Jahre alt, aufgewachsen in den 80ern und 90ern. Er ist Amerikaner, und Amerika war damals noch nicht bereit für offen ausgelebte Homosexualität. Sein Umfeld in den Suburbs von Seattle jedenfalls nicht. Hadreas wurde ausgegrenzt, verprügelt und bekam Morddrohungen. Mit Schmerzen kennt er sich schon immer gut aus: Er leidet an Morbus Crohn, einer ziemlich unangenehmen chronisch-entzündlichen Darmerkrankung.

Als Perfume Genius veröffentlichte Mike Hadreas bereits vier Alben, mit denen er seine schmerzerfüllte Vergangenheit aus Diskriminierung, Drogen und Gewalt verarbeitete. Früh bekam er beigebracht, sich für sich und seinen Körper zu schämen. Auch wenn sich in seiner Diskographie tieftraurige Songs finden wie das persönliche "17" von seinem zweiten Album "Put Your Back N 2 It", klingt er nicht wehleidig, verbittert oder jammernd.

Die Zeile "Half of my whole life is done" auf dem reizenden Intro "Whole Life", das mit nach und nach hinzugefügten Instrumente und den Streichern am Ende sogar ein wenig an den Blue Eyed Soul der 60er-Jahre erinnert, eröffnet das 13 Titel umfassende Werk. Die Wahl, was darauf folgen sollte, war nicht einfach: "Ich musste mich entscheiden, ob ich eine herzzerreißende, resignierte, eine akzeptierende oder hoffnungsvolle Stimmung erzeugen wollte." Hadreas entschied sich für hoffnungsvoll. Er möchte mit der Vergangenheit abschließen, sich verändern, vergeben und nicht mehr daran denken.

Vom Cover des fünften Perfume Genius-Albums "Set My Heart On Fire Immediately" blickt ein muskulöser Macho mit freiem Oberkörper herab. Perfume Genius schämt sich nicht mehr für seinen Körper, er stellt ihn zur Schau. Der Anblick hat wenig gemein mit seiner ansonsten eher femininen Selbstdarstellung, wie zum Beispiel im Musikvideo zu "Hood". Dort kämmt und schminkt ihn ein ehemaliger Pornodarsteller, der ein Jahr später nach schweren Depressionen Suizid beging, und tauscht mit ihm Zärtlichkeiten aus. Solche Bilder mögen ungewohnt sein und unangenehm wirken, doch es ist schwer, sich diesem Sound zu entziehen.

Das gilt auch für die Musik auf "Set My Heart On Fire Immediately". Neben der vorab veröffentlichten Single "On The Floor" markiert "Jason" einen Höhepunkt des Albums. "Jason undressed me, lying on his sheets" leitet Perfume Genius in das Stück ein. Eine verspielte Cembalo-Melodie untermalt die zweite Strophe, die dem Song einen unerwarteten Baroque Pop-Vibe verleiht. Ausgelassener als früher wirkt der Sänger. Noch immer beschäftigen ihn Themen wie Liebe, Sex, Beziehungen und Männlichkeit, aber er geht damit spielerischer um.

Trotzdem ist "Set My Heart On Fire Immediately" kein Triumph, keine ekstatische Feier eines Sieges über die Dämonen. Zu häufig und zu lange nimmt Perfume Genius dafür das Tempo raus, wie mit den (leider) aufeinanderfolgenden, eher melancholisch-ruhigen "Moonbend" und "Just A Touch". Fast zehn Minuten lang entschleunigt er das Album hier, stellt seine Stimme und und die Lyrics in den Vordergrund. Von verbotener Liebe singt er auf "Just A Touch": Liebe, die nur im Geheimen existieren darf und sich die meiste Zeit nur in der Erinnerung abspielt.

Melancholie und Dramatik sind zwei große Stärken von Perfume Genius, aber die melancholischen Momente wirken auf dem Album etwas drückend und die dramatischen Momente reichen an Theatralik und Ausdrucksstärke nicht an die Höhepunkte des Vorgängers heran, darunter "Wreath", "Choir" oder "Sides". Deswegen macht sein fünftes Album dem Vorgänger zwar Konkurrenz, übertrifft ihn aber nicht.

Die Musik von Perfume Genius klingt intim und persönlich, was schon allein Hadreas' Hang zur Introspektion geschuldet ist. Trotzdem finden sich auf "Set My Heart On Fire Immediately" auch Songs, die ohne Probleme im Radio laufen könnten. "On The Floor" beispielsweise würde jedes Programm mit seinem fesselnden Groove stark bereichern. Mit "Your Body Changes Everything" stellt Hadreas seine Fähigkeit unter Beweis, eingängig und präzise zu schreiben. Der Puls dieses Songs ist ein hektisches Arpeggio, abgehackte Synths im Hintergrund zerschneiden die Atmosphäre wie Samuraischwerter.

"I got what you want, babe. I got what you need, son. Nothing at all", singt Perfume Genius mit verzerrter Stimme im Chorus von "Nothing At All" über ein rockiges Instrumental. Wenn die Produktion so opulent und detailliert ausfällt wie hier, macht das Album am meisten Spaß. Mit Blake Mills von den Alabama Shakes und seinem Lebensgefährten Alan Wyffels hat Hadreas zwei versierte Musiker an seiner Seite, die ihm beim Produzieren und Schreiben aushelfen.

Wer denkt, der zarte Sänger mit der zarten Stimme schriebe nur zarte Songs, wurde schon auf dem letzten Album eines Besseren belehrt. Bei Perfume Genius prasseln harte Riffs auf fragile, hauchzarte und träumerische Passagen aufeinander. Das perfekte Beispiel dafür liefert "Describe", das zur Hälfte aus Americana-Rock und zur Hälfte aus einem langen Ambient-Outro besteht, in dem Perfume Genius mehrstimmig vor sich hin flüstert.

Diesen Kontrast beherrscht er, wie nur wenige. Ein Grund, warum in seiner Musik nur so selten Langeweile aufkommt. Nämlich nur dann, wenn er diesen Kontrast vermeidet und die Struktur über einen ganzen Song hinweg nicht verändert. Dies gelingt ihm über weite Strecken, aber nicht über die gesamte Distanz, weshalb "Set My Heart On Fire Immediately" zwar nicht als das Meisterwerk des Künstlers in die Geschichte eingehen, aber sicherlich als eines seiner besten Alben gelten wird.

Trackliste

  1. 1. Whole Life
  2. 2. Describe
  3. 3. Without You
  4. 4. Jason
  5. 5. Leave
  6. 6. On The Floor
  7. 7. Your Body Changes Everything
  8. 8. Moonbend
  9. 9. Just A Touch
  10. 10. Nothing At All
  11. 11. One More Try
  12. 12. Some Dream
  13. 13. Borrowed Light

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