laut.de-Kritik
Let's get political!
Review von Philipp KauseAls Protoje Anfang 2017 das politische Lied "Blood Money" veröffentlichte, soll er Morddrohungen erhalten haben. "When me say 'Blood Money' / Dem probably wah fi come fi me", erzählt er im neuen Song "80's Wild" auf Patois, auf "The Jamaican Situation. Side A". Wahrscheinlich observieren sie ihn, man kennt die Irrwege in einem undurchdringlichen Dickicht aus karibischer Gang-Kriminalität, Drogen- und Waffenschmuggel, Menschenhandel, den US-Geheimdiensten, den beiden großen Parteien Jamaikas und oligarchischen Strippenziehern. "Suppose me tell you 'bout Seaga and the CIA", schon Ende der 70er zu Zeiten von Edward Seaga entstand dieses System, dargelegt im Politthriller-Roman "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" von Marlon James, 800 Seiten. Alle Charaktere in dem Buch gab es wirklich. Der Song "Blood Money", etwa zeitgleich erschienen, war die beste Werbung für das Buch, das auch Protoje gelesen hat.
Auch musikalisch wies "Blood Money", zu finden auf "A Matter Of Time", einen neuen Kurs, indem der Keyboards-Riddim nahezu unmerklich unter der näselnden Stimme seine Kreise zieht. Auf der Mikroebene einzelner Wörter pinkelt der sanft verpackte scharfzüngige Song den Reichen ans Bein, die 'zufällig' gute Verbindungen in die Ministerien haben und von korrupten Politikern zu mildtätigen Mäzenen stilisiert werden, was dann sogar geglaubt wird: "The individual society applauding..."
Lange schwieg der Künstler danach zu dem, was er 'Klassismus' nennt, ein diskriminierendes Klassen-System, das die Würde des Menschen nach Kontostand und Connections zu fragwürdigen Unternehmern bemisst: "Coulda up-class, middle-class or a regular", formuliert Protoje in "Barrel Bun". Jetzt setzt er auf dieser "The Jamaican Situation"-EP einen drauf, spricht es direkt an, dass dieses System religiöse Rastafaris (die ja keinen Wert auf materialistische Symbolik legen) ausgrenzt. "A who did say lock up all Rastafari / Bring dem in dead or alive / And never want fi survive, huh?", ätzt er in "80's Wild". Falls es Probleme mit dieser gesungenen Munition gibt, hat er die Anwältin schon in den Startlöchern. Seine Mutter ist Juristin, einst sang sie "Breakfast In Bed", eine der berühmtesten Rocksteady-Nummern.
Zwischenzeitlich, seit "Blood Money", gab es viel zu tun. Der Sänger, MC, Songwriter und Produzent behob Missstände innerhalb der Musikbranche. Er setzte in Gang, dass kluge, teils queere Frauen an der vordersten internationalen Reggae-Front mitspielen, schob die gigantische Soul-Stimme und Beinahe-Medizinstudentin Sevana Siren, die sozialkritische Rub-a-Dub-Liebhaberin Lila Iké und die modelnde Psychologin Jaz Elise nach vorne. Mehrere namhafte Hebel setzte er in Bewegung, damit man jamaikanische Produktionen mal wieder physisch kaufen kann, nämlich zum Beispiel seine Alben, und damit sie eine große Reichweite haben, dank Vertriebs-Deal mit Sony. An seinen eigenen, anfangs schwachen Live-Performances arbeitete er hart, heute sind sie interessanter.
Den üblichen Klischee-Videos setzte er beispielsweise einen ungeschnittenen Clip mit einer einzigen fließenden Kamera-Bewegung entgegen. Aus der Hauptstadt zog er ins Home-Studio in den Hügeln jenseits allen Gewusels, und mit einem Kinderbuch für die Kleinsten Roots-sozialisierte er bereits die, die noch nichts mit Politik anfangen können. Dass Reggae politisch sein kann und soll, haben Bob Marley, Peter Tosh, Jimmy Cliff und Max Romeo dem Genre in seine DNA geschrieben, und es kommt nicht von ungefähr.
Curtis Mayfield, Sozialchroniker des amerikanischen Nordostens zur Zeit der 'Blaxploitation'-Filme, gab Bob Marley und den Wailers Anlass für acht Coverversionen. In der berühmtesten, "One Love", verweigerte Bob dem großen US-Vorbild die Credits, verschwieg die Urheberschaft von "People Get Ready". Curtis analysierte 1972 in einem Generic-Interview, also einem, das er selber produzieren ließ, den Teufelskreis Kokain konsumierender Teenager und Jugendarbeitsloser, spricht von "the situations that bring them into", ein damals revolutionärer Gedanke, ein verstehender Ansatz, der Beginn des Streetworker-Denkens. (Eine andere Soul-Ikone, Al Jarreau, arbeitete sogar selber als Streetworker.) "And any time you try fi make a move yah / It comin' like you have sumpin fi prove yah", analysiert Protoje jetzt die Situationen, die junge Menschen zurück werfen in ihre Herkunft, nach dem Motto: Hockt dein Vater wegen Drogen-Deals im Knast, wirst du genauso enden - bist du trotzdem gut in der Schule, musst du dich hundert Mal härter beweisen als der Schüler aus einem Vorzeige-Elternhaus.
Und dann kommt die Zeile, die im Grunde Coolios "Gangsta's Paradise" in anderen Worten ist: "Once the masses educated / then unstoppable we get / So you see, illiteracy is not an accident / It's precisely why we fight amongst we self." Nicht lesen und schreiben lernen ist der Grund, wieso wir uns gegenseitig bekämpfen, und, wären die Massen gebildet, wären sie nicht aufzuhalten (also gefährlich fürs Establishment). Das ist "why are we / so blind to see / that the ones we hurt / are you and me?" (1995) auf Kingston 2024 gemünzt, es ist die alte Erzählung Whoopi Goldbergs in "Sister Act" vor 33 Jahren, das alte Narrativ von Curtis Mayfields "Pusherman" vor über 50 Jahren. Und doch mal wieder fällig! Was Protoje noch zusätzlich einbringt, ist das Thema sexuelle Gewalt: "If you a woman, you a get abuse too."
Der Künstler spannt den großen Bogen, zurück zum Mordanschlag auf Bob Marley, als der die verhärteten Fronten der Anhänger von Seaga und Michael Manley von der Bühne aus aufbrechen wollte, während längst die Waffen sprachen. Auffallend viele potenzielle 'zweite Bobs' starben einen frühen Tod, man denke an Garnet Silk (28, vergiftet bei einer Gasexplosion), Hugh Mundell (21, erschossen im Auto auf einer Straße in der Stadt). Protoje erinnert an Jacob 'Killer' Miller, bis heute Vorbild vieler Reggae-Sänger und Zeuge des Attentats auf Bob Marley: Mit 27 gegen einen Laternenpfahl gefahren. Zeitgleich starben etwa 800 Personen im Wahlkampf 1980 ums jamaikanische Parlament. Protoje glaubt nicht an einen Zufall, und das merkt man auf "The Jamaican Situation".
Instrumente und Harmonien: Alles erstklassig, um es kurz zu machen. Okay, "Mariposa" klingt im Sounddesign zu flach und zu offenkundig nach Generation TikTok. Jedenfalls wenn man sonst auf rollende Bässe und Dolby Surround steht, die Musik soll sich aber explizit an die Teenager richten und der Song eine laid-back-Stimmung transportieren. Ansonsten alles top. Protojes Stimme zeigt sich sehr präsent, es umrahmen ihn feinste Keyboards-Arrangements. Ein Experiment mit Talkbox in "30 Million" glückt. "Barrel Bun" ist ein bisschen perkussiver, die Melodie eingängig, der Riddim schick produziert.
Saxophon, Posaune und Trompete sorgen für den letzten Schliff, Oshane, Randy und Okiel heißen die drei am Blech. Sherieta Lewis-Rodney lautet der Name der zu merkenden Background-Sängerin, Texterin für Etana, ehemals bei Diana King in die Lehre gegangen, in Deutschland auf "Blaue Stunde" von Gentleman zu hören. Alte Bekannte aus dem In.Digg.Nation-Team ko-komponierten, produzierten oder spielten Bass, der liebe Ziah machte mit, Peter 'KongzDrumatic' Samaru, Iotosh, Zion-I Kings. Interessante Menschen rundherum, Leute mit Inhalt und Vision. Die IzyBeats-Crew fand einen pfiffigen Riddim für "Where We Come From". Neu im Kontext sind Tippy I von den Virgin Islands, zuletzt für Nadia McAnuff aktiv, und Micah Shemaiahs Kumpel Will Tee.
Wichtig ist Protoje, dass die Stücke ein Soundtrack sind und nur die erste Hälfte davon. Im nächsten Jahr kommt ein Film, ein fiktionaler Kurzfilm mit doch irgendwie dokumentarischen Anklängen, realem Hintergrund. Dieser multimediale Kanal fehlte Protoje noch, um sich auszudrücken, und dieser Schritt ist folgerichtig.
Er hat viel recherchiert für seinen Geschichts-Krimi, wenn er die Details nicht schon wusste, Protoje als Guido Knopp der Karibik: "And who did set the order, bring in guns a Tivoli, April 22nd, 1978 / Jacob Miller, Bucky Marshall, Claudie pon a stage / Marley call out Manley and Seaga, dem say peace / But beg you pree dem face and then go check the date / Not even a year after inna '79 / Dem murder Claudie Massop, shot him 40 time / 1980's wild, mi tell you inna March / Dem murder Bucky a New York, Jacob dead in a crash / No haffi tell you / Wha happen May 11." - Überzeugt? Den Film wird man sehen müssen, wenn man offen für einen Blick auf den Inselstaat jenseits von Tourismus und Traumstränden ist.
Überdies hängt ja alles mit allem zusammen und alles am Geld. Protoje fragt auf der EP nach den Schulden, die Jamaika beim Internationalen Währungsfonds hat. So brainwashed, wie wir in Deutschland nach 15 Jahren Schwarze-Null-Doktrin sind, fragen wir gar nicht mehr, wer sich eventuell bei uns verschuldet hat. Hoch verschuldet und möglicherweise damals gelockt durch falsche Anreize, seinerzeit aus Panik vorm kubanischen Kommunismus 180 Meilen gegenüber, "And wah them use fi destabilize the economy", Protoje als Volkswirt.
Weit kommt man in Kingston schon als einfacher Händler nicht. "Kill two store owner last week / circumstances gave no choice", heißt es in "Barrel Bun". Gewalt unter Eingeweihten im amerikanisch-kubanisch-jamaikanischen Handelsdreieck und seinen nicht deklarierten Warenströmen ist Alltag. Ein Leben? - pff, nicht viel wert. "So don't play round with your life (...) Any day could be my last", ist sich der Reggae-Sänger bewusst. Eine Wendung wie "The system a rough (...) make the people lose their mind" hört sich zwar so an wie ein Auftritt Sahra Wagenknechts, an anderer Stelle stößt man beim Künstler eher auf Carsten Linnemanns "Leistung muss sich wieder lohnen"-Mantra, der Artist selber (wie gesagt, die Mama studierte in den frühen 70ern Jura) stammt aus der gehobenen Mittelschicht, möchte die Ghettos nicht sich selbst überlassen und "make reggae great again". Er sucht die internationale Bühne, hat aber anders als so viele Gebildete und Promis Jamaika nicht gen USA verlassen, sondern verändert es von innen.
Dabei kommen ihm seine Affinität zum Hip Hop und seine Fähigkeit zu originellen Reimen zupass, sein Faible für witzige Bilder in Texten und seine MC-taugliche trockene Art, Kurioses und Absurdes ernst vorzutragen. "Silencer don't make no noise", ist so eine catchy Zeile, oder die Karikatur von den "beer contracts", also Verträgen, die mit Bier besiegelt werden, bei uns nachzuschlagen unter Scheuer Andi.
Es sind die Metaphern, die zu Gedankensprüngen in der nächsten Zeile führen - "You will get it quicker than a call pon you cellular / group pon Whatsapp full a bare contract" - Sätze, über die man stolpert und die tief im Kriminellen-Milieu stochern: Sie machen 'Proto' zu einem Quasi-Rapper. Aus seinem Anti-Gangster-Rap bleibt die Message, die jeden der fünf Songs irgendwie durchzieht, "wir müssen überleben und den Kampf aufnehmen", oder wie es in "Where We Come From" heißt: "We in the struggle / but we still surviving", wodurch sich erklärt, wieso sich der Sänger gerne in Military Look zeigt. Dass der Song-Zyklus "The Jamaican EP (Side A)" heißt, spielt selbstironisch auf das "Royalty Free"-Mixtape an, aus dem Protoje 2016 die B-, aber nie die A-Seite veröffentlichte. Der Rasta-Innovator verspricht nun einige fehlende Seiten für 2025.
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