laut.de-Kritik

Kritische Töne, clevere Slam-Poetry und Rap-Angeberei.

Review von

Der walisische Sänger Ren hat mit seinen Musikvideos, die sich mit seinen mentalen Problemen und seiner belastenden Vergangenheit auseinandersetzen, eine beeindruckende Anhängerschaft gewonnen. Mit seinem zweiten Studioalbum "Sick Boi" nutzt er den Hype und nimmt seine Zuhörer noch einmal mit auf eine Reise durch seinen persönlichen Leidensweg. Dabei begegnen wir Gesellschaftskritik, einer Prise cleveren Slam-Poetry und aufgesetzter Rap-Angeberei.

Eigentlich hat Ren interessante Geschichten über Trauma und Psyche zu erzählen. Er erkrankte in jungen Jahren an der Infektionskrankheit Lyme-Borreliose und war aufgrund zahlreicher Fehldiagnosen jahrelang an's Bett gefesselt. Das Gesundheitssystem redete ihm die verschiedensten psychischen Erkrankungen ein, das ewige Leiden kostete ihn sein vielversprechenden Plattenvertrag bei Sony. Nach seiner Genesung kehrte Ren ohne Unterstützung eines großen Labels zurück und produzierte und vermarktete seine Musik auf eigene Faust. Im Rahmen der Promotion für "Sick Boi" veranstalteten Ren und sein Team ein Online-Spiel, bei dem Fans durch kollektive Anstrengungen sieben knifflige Rätsel lösen konnten und die Chance auf ein Preisgeld erhielten. Die sieben Rätsel waren den sieben tödlichen Sünden gewidmet - eine fast zu offensichtliche Gesellschaftskritik.

Mit dem ersten Track "Seven Sins" entfaltet Ren diesen Aspekt weiter. Er beginnt hier mit einer eindringlichen Schilderung seiner Erlebnisse im Kampf gegen seine Krankheit und berichtet von seinem im Strudel des Leidens schwindenden Glauben. Im Titeltrack "Sick Boi" erhält man noch mal eine tieferen Einblick in seine Erfahrungen, Ren rappt darüber, dass er Medikamente verschrieben bekam, die seinen Zustand verschlechterten. In den Bridges stellt er ein Gespräch mit seiner Therapeuten nach und gelangt zur Erkenntnis, dass es nicht er selbst ist, der krank ist, sondern die Welt um ihn herum. Diese Erkenntnis bildet den Übergang zu seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Illusion einer perfekten Welt, der Konsumgesellschaft und der Gier nach Reichtum und Rum. Sein Standpunkt ist klar: Der Mensch ist ein Parasit. Ein interessanter Einblick in seine Gedankenwelt, den er mit viel Energie, Wut und bildhaften Reime gestaltet. Ab diesem Punkt scheint die Geschichte seiner Krankheit jedoch ausführlich erzählt zu sein. Dennoch schlachtet Ren das Thema auf dem restlichen Album konturlos aus - im späteren Titel "Sick Boi, Pt. 2" wiederholt Ren den gesamten Vorgang auf genau die gleiche Weise.

Oft kommt es vor, dass die Songs eher ziellos im Kreis verlaufen. An vielen Stellen verfällt Ren in die unglückliche Gewohnheit, auf eine Art und Weise zu rappen, die seltsam und uninspiriert wirkt, mit einer typischen "Ich bin härter und kann besser rappen als alle andere"-Rhetorik. Das Gesamtergebnis wirkt nicht nur unpassend, sondern beinhaltet trotz seines unbestrittenen Talents fragwürdige Lines wie etwa in "Murderer": "I was born famous, trendsetter, hot stepper, greatest / Shocking like a finger in the anus". Auch auf "Illest Of Our Time" prahlt Ren, und es wirkt eher unglaubwürdig, wenn er behauptet, wie sehr er den Beat dominiert: "I am a rap-star / Don't believe me? The facts are / I spit fast like I'm Nascar / Don't believe me? Then fuck ya". Anknüpfend an dieses Image betont er auch mehrfach, wie verrückt und gefährlich er sei, obwohl er dabei das genaue Gegenteil vermittelt. Auf "Loco" macht er das über einen A-Capella Beat, während er auf "Animal Flow" Tiergeräusche über den Beat grunzt.

Wenn Ren sich nicht darauf konzentriert, Geschichten zu erzählen, sondern sich stattdessen dem Prahlen und Angeben hingibt, geht es völlig in die Hose. Er klingt dabei wie ein 40-jähriger Deutschlehrer, der seinen Schüler zeigen möchte, wie cool er ist. Auf dem Track "Love Music, Pt. 4", auf dem er auch noch mal verdeutlicht, was für ein krasser und verrückter Außenseiter er ist, bringt er es zu Beginn sogar ziemlich treffend auf den Punkt: "Don't even know what to rap about anymore, I feel like I'm just getting older and more cynical" und rappt dann noch im selben Song völlig hemmungslos "Give her the lickity-flickity while I'm beating her back / She gets giggly, wiggly when I go in to tap / And I'm the god of fertility when I do it like that". Wie bitte?

Aber, wie bereits erwähnt, besteht Rens Stärke im Geschichtenerzählen, die er besonders gut mit seinen bildhaften, sorgfältig ausformulierten Reimen und seiner wandlungsfähigen Stimme zum Ausdruck bringt. In "Money Game, Pt. 3" etwa erzählt er eine Geschichte eines Jungen namens Jimmy, der die scheinbar glücklichste Position in der Gesellschaft erreicht hat, aber durch einen Perspektivenwechsel erkennt, dass alles Geld und Macht ihn nicht erfüllt. Ren richtet dabei nicht nur den Finger auf sich, sondern auch auf seine Zuhörer und zählt alle Schattenseiten der Gesellschaft auf.

Auch auf "The Hunger" legt Ren eine bemerkenswerte Slam-Poetry-Performance hin und überrascht mit einem energetischen Doubletime. In "Suic*de" teilt Ren in Begleitung einer melancholischen Ballade seine Erfahrungen über den Verlust eines Freundes durch Suizid, und vermittelt mit bewegenden Passagen sehr einfühlsam die Trauer und das Leid, die mit einem solchen Verlust einhergehen: "I locked my youth inside a trunk inside a pick-up truck / Then dumped the whole thing over that same bridge the night you jumped / I think about that sometimes, vividly / What it felt like to look down and see tranquility". Die Höhepunkte des Albums erreicht Ren immer dann, wenn er in Form einer Slam-Poetry-Performance auftritt, während er wiederum Schwierigkeiten hat, wenn er sich an Rap-Songs, Melodien und vor allem beim Gestalten seiner Hooks versucht, die oft verschroben und eingängig wirken.

Viele der Songs wie die triviale Pop-Schnulze "Uninvited", der möchtegern-bedrohliche "Masochist", "Down To The Beat" oder "Lost All Faith" mit der kreischenden Hook fallen relativ flach aus und haben keine erwähnenswerten Momente. In "Genesis" und "What You Want" zeigt sich jedoch auch Rens Talent, das er als Straßenmusiker oft unter Beweis gestellt hat. Dieses Talent allein bringt jedoch kein großartiges Gesamtergebnis hervor. Die Produktionen auf "Sick Boi" wirken wie ein zusammengeflickter Teppich, der von langsamen akustischen Stücken über A-Cappella bis hin zu elektronischen House-Beats reicht. Seine ausgeklügelten Reimschemata sorgen gelegentlich für gute Unterhaltung, scheitern jedoch oft, wenn er dem Hörer kein greifbares Thema näherbringt. Obwohl die Themen, die die dunklen Seiten der menschlichen Psyche und gesellschaftliche Probleme beleuchten, gut dargestellt sind, wiederholen sie sich zu oft und wirken in Kombination mit seltsamen Passagen, schwachen Hooks und übermäßiger Produktion dann doch zu dick aufgetragen.

Trackliste

  1. 1. Seven Sins
  2. 2. Sick Boi
  3. 3. Animal Flow
  4. 4. Money Game, Pt. 3
  5. 5. Lost All Faith
  6. 6. Genesis
  7. 7. Murderer
  8. 8. Suic*de
  9. 9. Illest Of Our Time
  10. 10. Love Music, Pt. 4
  11. 11. Uninvited
  12. 12. What You Want
  13. 13. The Hunger
  14. 14. Down On The Beat
  15. 15. Masochist
  16. 16. Loco
  17. 17. Wicked Ways
  18. 18. Sick Boi, Pt. 2

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11 Kommentare mit 15 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Harsche Kritik! Aber ich bin kein Experte.
    Ich liebe es!
    Für mich ist nicht wichtig, dass alles besonders ist, sondern dass ich es gerne höre und ich mochte nie HipHop / Rap.
    Dafür, dass Ren (fast?) alles selber macht und noch nicht vollständig genesen ist und z.T. einfach nur Spaß haben wollte, ist es super.
    Und Uninvited ist ein gute Laune Stück und sorgt für Gelächter.
    Das mag ich.
    No. 1 Album in the UK now
    Vielleicht muss man einige Videos gesehen haben, um den Hype zu verstehen.

  • Vor einem Jahr

    Ich kann dieses Ergebnis kaum glauben, es ist ausgezeichnet. Es ist gewagt und neu, weg von der Notwendigkeit von Catch-Hooks und unglaublichem Rhythmus und Schreibstil. Ich würde einen anderen Blick, eine andere Partitur und das Ansehen der Videos empfehlen.

  • Vor einem Jahr

    Seit ich vor etwa 9 Monaten das erste mal „Hi Ren“ gehört (bzw. das Video auf Youtube gesehen) habe, bin ich ein schrecklicher Fanboy geworden. Meine Meinung ist also alles andere als objektiv. Und auch wenn ich beruflich viel mit Musik zu tun habe, würde ich mich niemals als Experte bezeichnen, speziell wenn es um Rap/HipHop geht - abgesehen von Cypress Hill / House of Pain / Beastie Boys bin ich ehrlich gesagt kein Fan des Genres und eher in Sachen Rock und Metal unterwegs.

    That being said: Jeder hat ein Recht auf eine eigene Meinung, aber mit Verlaub - die Meinung in dieser Album-Kritik ist meines Erachtens nach schwach und grenzt an „falsch“. Vielleicht spielt fehlende englische Sprachkompetenz eine Rolle, weshalb die Texte, Inhalte und Wortspiele (Rapper würden wohl sagen „die Bars“) nicht erfasst und/oder gewürdigt werden. Nur als ein Beispiel: „während er auf "Animal Flow" Tiergeräusche über den Beat grunzt“ ist eine sehr reduzierende Einschätzung eines Songs, der auf geniale Weise „Animal Farm“ aufgreift - ob aus Faulheit und Unverständnis, will ich nicht beurteilen.

    Man mag von Ren halten, was man will - aber der Fakt, dass er ohne Plattenvertrag, ohne Unterstützung eines großen Labels, ohne klassisches Marketing, ohne Konzerte und sogar ohne im Radio gespielt zu werden Platz 1 in den UK Album-Charts (gegen Größen wie Drake und Rick Astley) erobern konnte, spricht Bände. Das ist ein Triumph der Kreativität und ein Triumph für alle unabhängigen Künstler gegen die gewaltige Maschinerie der Musikindustrie. Und es zeigt, wie sehr Ren Menschen berührt und begeistert - Menschen aller Altersgruppen, aus verschiedensten musikalischen Genres und rund um die Welt.

    Ich möchte hier den Autoren der Album-Kritik nicht persönlich angreifen, wahrscheinlich hat es einfach nicht geklickt, und das ist in Ordnung. Aber wenn ich mir die Reaktionen und Einschätzungen von Leuten anschaue, die unbestrittene Kompetenz in Sachen Musik haben, von Opernsängern und Rappern über Musiker und Produzenten bis hin zu Psychologen, welche die Inhalte der Songs analysieren, kann ich mich über diese Einschätzung nur wundern. Es tut mir leid, aber wenn Justin Hawkins (The Darkness) über Ren sagt „That guy is a hero and a star, he’s going to be a legend, he’s going to take over the entire world“ und Andrew Lloyd Webber schreibt „[Ren] is one of the most unique songwriters and storytellers I’ve seen in recent times“, dann kann ich diese Kritik nicht wirklich ernst nehmen.

    • Vor einem Jahr

      @NVB: eine Rezension ist eine Rezension ist eine Rezension. Aber das schreibst du ja auch. Alles okay, nur: warum Andrew Lloyd Webber? Da muss ich an Helge Schneider denken, der - ich weiß nicht, ob bei einem Auftritt oder auf einem Tonträger - nach meiner Erinnerung annähernd wörtlich sagte, dass Andrew Lloyd Webber "uns mit seiner Scheiße besudelt." Wer wagt es, Helge zu widersprechen und Webber als zitierfähig zu begreifen? Obacht.

  • Vor einem Jahr

    Wenn unter einem HipHop/Rap Album jeder Kommentar mit "Eigtl höre ich ja kein Rap, aber..." beginnt, ist es direkt ungehört 1/5

  • Vor 10 Monaten

    Diese Rezension und die Reaktionen darauf lassen mich nicht los.
    Zum einen werden die einzelnen Tracks in Schubladen gesteckt, was ich als zu begrenzt empfinde.
    Ren möchte niemandem einen Stempel aufdrücken und seine Meinung manifestieren. Er möchte, dass jeder für sich etwas mitnimmt und Diskussionen anregen. Und manchmal auch nur zeigen, dass es OK ist, nur Spaß zu haben.
    Zum Album hat sich Ren bei Rollingstone UK geäußert und eine Übersicht über alle Tracks gegeben. Das ist lesenswert.
    Zum anderen die Antworten der "Alteingesessen": Ist es so schlimm, dass sich Leute an Musik erfreuen und diese wieder neu entdecken? Warum muss man dies im Keim ersticken?
    Was ist laut.de? Ein elitäres kleines Grüppchen?
    Im Gegensatz dazu ist in Rens Community jeder willkommen und man unterstützt sich gegenseitig.

    Und weil ich nicht gut mit Worten bin, kann sicher jeder Satz von mir auseinander genommen werden. Auch werde ich es nicht geschafft haben, niemand angegriffen zu haben und positiv zu bleiben.

  • Vor 7 Monaten

    Wer Uninvited als "triviale Pop-Schulze" bezeichnet, zeigt damit ganz deutlich, dass er/sie sich mit dem Album und den einzelnen Songs absolut nicht auseinandergesetzt hat! Verschiedene Meinungen kann ich durchaus tolerieren und akzeptieren, aber eine solche Rezension zu schreiben, während das Album offensichtlich nebenbei höchstens beim Putzen oder in der Werkstatt durchlief, ist wirklich frech. Leider wurde sich mit den einzelnen Liedern inhaltlich und stylistisch absolut nicht beschäftigt, diese Kritik ist wirklich unterirdisch.

    • Vor 7 Monaten

      Ein gewisser Agitator. Aus Personenschutzgründen nennen wir ihn...Lisa R. Nein, zu offensichtlich...sagen wir L. Ragismo.

    • Vor 2 Monaten

      Hi Lisa, bin ganz Deiner Meinung. Rens Sarkasmus, Rens Ironie, alles entweder nicht verstanden oder beiseite gewischt. Ren mal eben nebenbei hören kann einfach nicht gut gehen – das ist alles viel zu tief und muss auch im Gesamtkontext gesehen werden.

    • Vor 2 Monaten

      Und dann sind aber auch einfach nur Spaßnummern dabei, wie beispielsweise 'What you want'.
      Love it.