laut.de-Kritik
Mehr Udo Jürgens, bitte!
Review von Dani FrommRoland Kaiser erscheint geradezu prädestiniert dafür, seinem Publikum in unübersichtlichen Zeiten "Perspektiven" aufzuzeigen. Im Frühling feierte er seinen 70. Geburtstag. Seit einem halben Jahrhundert steht er bereits auf der Bühne. In dieser Zeit hat er Geschichte und Geschichten erlebt, den Erfolg und seine Kehrseite gekostet, auch den einen oder anderen Schicksalsschlag weggesteckt.
... und bestimmt nicht nur den, wie er noch immer nicht müde wird, in seinen Songs zu thematisieren. Wer hoffte, die Jahre könnten den alten Stelzbock, der sich einst (schon recht schmierig) mit "Manchmal Möchte Ich Schon Mit Dir" an die Frau seines Freundes heran wanzte, irgendwie gebändigt haben: Vergesst das. Auch 2022 fantasiert Kaiser, offensichtlich inspiriert von zu kurzen Kleidern und zu tiefen Dekolletés ungebrochen lüstern, von Freundschaften mit Benefits ("Freunde Bleiben"), ungezügelter Rammelei an beliebigen Orten zu allen Tages- und Nachtzeiten ("Wir Spielten Immer Ohne Regeln") oder, gar nicht mehr subtil "Du, Deine Freundin Und Ich" betitelt, vom flotten Dreier.
Jesses, denkt man sich angesichts dessen, muss das wirklich so explizit sein? Der schweigend genießende Gentleman scheint tatsächlich zu den aussterbenden Arten zu gehören. Andererseits: Warum sollte vergnügt ausgelebte Sexualität ein Privileg einer Jugend sein? Eigentlich ja schön, wenn sich auch Herren gesetzten Alters noch des Lebens erfreuen und Lust und Leidenschaft genießen. Obendrein lässt das hoffen, man selbst wird ja auch nicht mehr jünger.
So lange der notorische Schwerenöter seine Gedankenspielchen in ein derart klassisches Disco-Outfit steckt, dass man vorher problemlos "Let's Groove" von Earth, Wind & Fire und danach Delegations "Heartace No. 9" auflegen könnte: Entschuldigung, wer wollte sich da groß beschweren?
"Es Ist Alles OK", befindet Roland Kaiser auch selbst und zitiert sich ohne jede Reue, dafür mit sympathischen Augenzwinkern und kompositorischer Hilfe von Nino de Angelo einmal quer durch sein eigenes Oeuvre. Wer die Entstehungsgeschichte des Textes zu "Santa Maria" kennt, amüsiert sich hier noch besser. (Wem dieses Hintergrundwissen fehlt, dem sei Kaisers ungemein unterhaltsame Biografie "Sonnenseite" noch einmal wärmstens ans Herz gelegt.)
Die Perspektive, die "Perspektiven" bietet, klingt so versöhnlich, wie in hysterisch überhitzten Zeiten angebracht: Leben und leben lassen. Zeigt ein bisschen Demut. Nehmt euch selbst nicht zu ernst, verzeiht euch selbst und auch mal den anderen. Hört einander zu, statt euch gegenseitig niederzuschreien. Dagegen lässt sich nichts einwenden.
"Zuversicht" plädiert für Liebe und Respekt unter den Menschen und für die Welt, in der wir leben. Nötig wärs. Klar ist das radiotauglich angepoppter Schlager - "moderner Erwachsenenpop" nennen sie das bei Ariola, immerhin größtenteils eher vom Typus Münchener Freiheit, als diese lieblos zusammengeklöppelte Grütze auf diesen Vierviertel-Billo-Bumms-Beats, die andere aktuelle Schlager-Acts so zu Tode reiten.
Gruseligkeiten gibts natürlich trotzdem. Wann kommen zum Beispiel bitte endlich diese grausigen Synthiekeyboards aus der Bohlen-Hölle aus der Mode, die zum Beispiel durch "Gegen Die Liebe Kommt Man Nicht An" oder "Freunde Bleiben" scheppern? Die ranzigen Männlein-Weiblein-Klischees ("Du brauchst 'nen Mann, der dein Feuer steuern kann", örx!) könnte man auch langsam irgendwo verscharren - oder wenigstens im zweiten Vers dann konsequent umdrehen.
Wie man einen Song "Wir Spielten Immer Ohne Regeln" nennen und ihn dann musikalisch dermaßen zopfig machen kann, dass er in einer Wiederholung der ZDF-Hitparade von 1981 nicht aus dem Rahmen fallen würde, muss ich nicht verstehen. "Du willst keinen Mann, der dein Herz repariert", gaukelt "Sag Mir Wann" Verständnis für die Wünsche der "starken, unabhängigen Löwin" vor, die Kaiser da ansingt, nur um in der nächsten Zeile genau darauf gepflegt zu pfeifen? "Ich könnte das tun, sag mir wann." Ja, NIE, danke auch!
Immerhin hat Roland Kaiser Glück, dass er als aufrechter Genosse mit Haltung und noch allen Latten am Zaun bekannt ist, sonst hätte das Nena-Zitat in "Das Erste Mal" - "Liebe wird aus Mut gemacht" - vielleicht misstrauisch aufhorchen lassen. So aber bleibt das ein unverdächtig nostalgischer Rückblick auf die erste Liebe, inhaltlich eher auf Maffay'schen Pfaden als auf schwurbeligen Abwegen unterwegs.
"Er, Sie Und Er" klingt, als habe sich ein Schlagerproduzent "Summer Wine" vorgenommen und für Gitarre und Hafenmusikant umarrangiert, und das bereits in den tiefsten 70ern. Der Neuaufguss von "To All The Girls I've Loved Before" wäre als betulicher, aber halbwegs erträglicher Balladenschmonz durchgegangen, hätte sich Roland Kaiser, der hier den Willie Nelson gibt, als Julio Iglesias-Surrogat nicht ausgerechnet den (warum auch immer!) so omnipräsenten wie komplett seelenlosen Giovanni Zarrella ins Boot geholt.
In krassem Kontrast dazu - und quasi als Wiedergutmachung - präsentiert sich die dramatische Klavierballade "Eins Musst Du Mir Lassen" in allerbester Udo Jürgens-Manier, großes Finale mit Streichern und Rührtrommeln inklusive. Dieses Outfit steht Roland Kaiser wirklich ganz ausgezeichnet, da fehlt wirklich nur noch der Bademantel.
Mit "Bis Zum Letzten Atemzug" fährt "Perspektiven" zudem einen würdevollen Closer auf. In dem Song steckt so viel von Roland Kaisers persönlicher Geschichte, dass man schon mit der Nase drauf gestoßen werden muss, dass nicht er selbst, sondern sein Kollege Gregor Meyle das geschrieben hat.
Der Gastgeber selbst erscheint mit sich im Reinen und vollauf zufrieden: Lebensziel erreicht? Erstrebens-, ja, beneidenswert. Trotzdem klingt es nicht danach, als habe Roland Kaiser sein letztes Wort schon gesprochen. So lange noch Luft in der neuen Lunge ist und das Fazit so positiv bleibt wie die Euphorie seiner Fans ungebrochen, spricht ja auch wirklich nichts gegen eine weitere Runde. Wenn dabei der Jürgens den Jürgen zunehmend verdrängt ... also, ich hab' keine Einwände.
1 Kommentar
wers mag mag´s mögn. i net.