laut.de-Kritik
Blues und Rock in inniger Umarmung von einem tragischen Gitarren-Genie.
Review von Jürgen LugerthAn die Beschreibung dieser großartigen Schallplatte (Vinyl ist beim Anhören das einzig richtige Format für das Album) muss ich ausnahmsweise mal etwas persönlicher herangehen als bei üblichen Rezensionen. Man möge es mir verzeihen. Aber das unvergessliche und leider viel zu früh dahin geschiedene irische Musiker-Original Rory Gallagher hat nun einmal einen speziellen Platz in meinem Herzen inne, genau wie das hier zu besprechende Blues Rock-Meisterwerk, das bei vielen Rory-Fans die Top-Position in seiner Diskografie einnimmt.
Ganz leicht fällt es bei Rory Gallagher ja nicht, seine wirklich beste Platte herauszufinden. Denn auch Glanztaten wie sein selbstbetiteltes, mehr akustisch angelegtes Debüt von 1971, die hart rockenden Alben "Photo Finish"(1978) oder "Top Priority"(1979), die Scheiben "Deuce"(1971), "Blueprint"(1973) oder "Calling Card"(1976) haben alle große Momente und kommen nah an "Tattoo" heran. Nicht zu vergessen der grandiose, wunderbar hemdsärmelige und abwechslungsreiche Konzertmitschnitt "Live In Europe" von 1972, der meine Liebe zu Rory Gallagher, zu seiner Musik und zu seinem einzigartigen Gitarrenspiel begründete. Auch die Platten, die Gallagher mit seiner vorigen Band Taste gemacht hat, bestehen in ihrer Vielfalt und musikalischen Qualität bis heute mühelos den Test der Zeit.
Trotzdem ist "Tattoo" in seiner Gesamtheit allen anderen eine Nasenlänge voraus. Schon das Cover-Artwork ist schöner, runder, einprägsamer als die übrigen auf Rory Gallaghers Scheiben. Ungewöhnlich auch der Einstieg ins Album: Bevor der melancholische Rocker "Tatto'd Lady" Fahrt aufnimmt, hört man erst einmal seltsam verhaltene und verhallte Keyboard- und Gitarren-Töne, die so etwas wie die Illusion einer Kirmes-Athmosphäre erzeugen. Das passt dann auch gut zum folgenden Stück, in dem Rory wahrscheinlich einer verflossenen Rummelplatz-Liebe nachtrauert. Oder auch nur dem Flair von Schießbude, Autoscooter und Karussell, das ganz besondere Jugenderinnerungen wachruft.
Jedenfalls erzeugen die repetitiven Tastenakkorde von Keyboarder Lou Martin, der vorwärts marschierende Rhythmus des Songs, der eindringliche Gesang von Rory und seine über all dem klagend sprechende Gitarre ein seltsame Wehmut, die kaum abzuschütteln ist. Parallelen zu den Zeitgenossen Ten Years After um den Gitarren-Flitzefinger Alvin Lee kann man durchaus hören.
Danach wird richtig Gas gegeben. Mit dem über sechsminütigen "Cradle Rock", der auf einem wuchtigen Fundament aus Bass und Schlagzeug vielfältige Gitarren-Sounds, Hammond-Orgel, Mundharmonika und Gesang übereinander türmt, hat Rory Gallagher einen Parade-Bluesrocker geschaffen, der sich bis heute mit allem messen kann, was aus dieser Ecke kommt. Richtig groß wird es, wenn Rory wie losgelöst unisono mit seinen Gitarrenlinien singt. Nicht umsonst versuchen sich Koryphäen wie etwa Joe Bonamassa gern an diesem Prachtstück, wenn ihnen live die Zugaben ausgehen.
Eine Western-Gitarre bremst den Funken sprühenden Zug, bevor er aus der Kurve fliegt. "20:20 Vision" ist eines der vielen für Gallagher typischen Country&Western-Stücke, von denen immer mindestens eines auf seinen Platten sein muss. Rollendes Bar-Piano, lässiger Rhythmus, akustische Gitarre und klar, es geht um ein Mädel. Er ist verliebt. Was sonst?
Ebenso charakteristisch ist der nächste Song. "They Don't Make Them Like You Anymore" ist ein Flirt mit dem Jazz, den Rory Gallagher schon mit der Band Taste so virtuos in Szene gesetzt hat. Man denke nur an das fantastische "Its Happened Before, It'll Happen Again" vom Album "On The Boards". Hier wie da swingt und groovt die ganze Bande nach Herzenslust und Rory soliert so locker aus dem Handgelenk auf der Gitarre, als gebe es keine Grenzen für ihn. Als reiner Jazzer hätte er jedenfalls auch ein gute Figur gemacht.
Mit "Livin' Like A Trucker" geht es zurück in solide Blues Rock-Gefilde. Vorwärts stampft die Maschine und suggeriert auf diese Art ständige Bewegung. Das Leben auf der Straße, das rastlose Reisen, das ist das Thema dieses Songs, der schon fast wie Hardrock klingt und ein paar fette Gitarrensoli unterbringt. Das folgende "Sleeping On A Clothes Line" mit seinem stampfenden Boogie-Rhythmus und seinem Honky Tonk-Klavier verbreitet gute Laune und erinnert sogar an die guten alten Status Quo. Man sollte einmal nachforschen, ob die das Ding nicht irgendwo und irgendwann gecovert haben. Es stünde ihnen jedenfalls gut zu Gesicht.
Bei "Who's That Coming" packt Rory den Bottleneck aus und befeuert dieses weitere, sieben Minuten lange Sahnestückchen von einem Blues-Rocker mit der Mundharmonika und einer Slide-Gitarre, bis die Saiten glühen. Eine klimperndes Piano fügt weitere leuchtende Farbtupfer hinzu.
All das macht "Tattoo" schon zu einem gelungenen Album. Aber das wahre Highlight folgt an Nummer Acht. "I'm A Million Miles Away" heißt die sensationelle (Power-)Ballade, die einen tiefen Blick in Rorys damaliges Seelenleben gestattet und die jeden harten Mann zum Weinen bringen kann. Vorausgesetzt, er hat genug alkoholisch Gebrautes konsumiert. Welcher heimatlose (Geschäfts-)Reisende und Wanderer kennt das nicht? Du sitzt nach einem schweren Tag am Tresen irgendeiner heruntergekommenen Bar in der Fremde und schüttest dir diverse Getränke rein, während lauter namenlose Menschen um dich herum sitzen oder stehen und über irgendetwas reden, das dich nichts angeht. Der Piano-Mann klimpert unverdrossen auf den Tasten und der Barkeeper ist selbst sein bester Gast. Du lässt alles an dir vorüberziehen und die Welt um dich herum verschwimmt nach und nach im Bier- und Zigarettendunst. "Well, I'm a million miles away, I'm a million miles away, I'm sailing like a driftwood on a windy bay."
Besser als in diesem großartigen Song des rastlosen Musikers und Weltenbummlers Rory aus dem nordirischen Ballyshannon kann man dieses Gefühl der Entfremdung und Entrückung wohl kaum ausdrücken. Ich wäre in so einer Situation gern einmal mit dem sympathischen, hochbegabten, bodenständigen und eigenwilligen Recken zusammen gesessen. Die Frage ist nur, wie lang ich hätte mithalten können. Denn in diesem Lied wird auch die Unfähigkeit, mit dem Trinken aufzuhören, aufzustehen und wegzugehen, thematisiert. Und so starb Rory folgerichtig noch deutlich vor seinem fünfzigsten Lebensjahr an einem Leberschaden und konnte auch durch eine Transplantation nicht gerettet werden. Zu oft "a million miles away". Ein Jammer! Ich habe damals sehr um ihn getrauert.
Zurück zum löblichen Werke. Der Schlussakkord heißt "Admit It" und rockt selbstbewusst und nachdrücklich, aber auch locker und souverän auf die Auslaufrille zu. Noch einmal kann man die unverwechselbare, virtuose Gitarre von Rory Gallagher ausgiebig solieren hören und seine Mitstreiter Lou Martin (Keyboards), Gerry McAvoy (Bass) und Rod De'Ath (Drums) geben sich ebenfalls keine Blöße. Auf neueren CD-Ausgaben des Albums gibt es diverse Bonus-Tracks, aber diese tragen nichts weiter zur Qualität des Originals bei. Dieses ist auch ohne Zusätze gut genug.
Fazit und Nachruf: "Tattoo" ist ein rundum stimmiges Dokument eines außerordentlichen Blues Rock-Genies und Multi-Instrumentalisten, der sein Leben lang aufrecht blieb und dennoch viel zu früh fiel. Sein musikalisches Erbe wird noch viele Rock-Fans erfreuen. Ruhe in Frieden, Rory!
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
8 Kommentare mit 3 Antworten
Ich persönlich warte ja immer noch auf den Meilenstein zu "Destroy Erase Improve"
Aber das ist auch eine schöne Review
Ist das das Album wo sich der Drummer mit dem Rest nicht auf den Takt einigen kann?
Witzig!
PUMPI, Allah - ich grüße Dich!!!
Tolle Rezension! Ich trauere Rory auch noch nach - was für ein großartiger Gitarrist!
Ja, so geht es mir auch. Was für ein grandioser Typ und Gitarrist. Danke für das Review.
Na dann eben "Live In Europe", "Stage Struck" oder die "Irish Tour"!
Sicher ein weltklasse Gitarrist aber er war eben auch genialer Songwriter und ein wunderbar geerdeter Mensch. Doch wenn Rory auf die Bühne schritt entfesselte er Energieexplosionen und zauberte Musik mit Herz und Seele. RIP
Rory Gallagher mit TASTE und anschl. seine beiden ersten Solo-Alben sind für mich das Nonplusultra des Blues-Rock; auch heute noch!!! Ob er ein wunderbarer Mensch auch neben der Bühne war, kann bezweifelt werden. Falls die Aussagen in Garry McAvoys Biografie stimmen sollten.