laut.de-Kritik

Unwiderstehliche Electro-Melodien, vernebelt und blubbernd.

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Neidisch schaut man als Fan nach Japan, wo Sébastien Telliers Album "Domesticated" mit vier exklusiven Bonus-Titeln erschien. Denn bereits die acht Tracks der Standardfassung vermitteln unwiderstehliche Melodien. Dort in Fernost fällt der soulige Ambient-Electro-Dream-Pop mit den prägnanten Synthesizern auf den fruchtbaren Boden des City-Pop-Revivals.

Der Franzose liebt den Electro-Sound der 80er, wie Midge Ure, Alphaville und Gazebo ihn malerisch gestaltet haben, aber eben auch so soulig wie jene City-Popper Japans, meisterhaft retro-antiquiert im Schlusstrack "Won". Zugleich wäre auf das Stück vielleicht auch ein D'Angelo oder Maxwell stolz, besitzt es doch neo-soulige Intimität, Coolness und Versunkenheit, elektronische Kühle und starke Strahlkraft, ohne einen Refrain oder eine Hookline zu brauchen.

Alle Songs auf Telliers zwölftem Studiowerk zeichnen sich durch klare Songstrukturen aus, so klar wie Gebirgsquellwasser. Zugleich haben sie etwas Vernebeltes, eigenwillige Ambient-Passagen, in denen die Synthies wie Soundtracks zu einem Film, vielleicht einer Natur-Doku wirken. Einer der Tracks, "Venezia", reißt mitten im Ton ab, als wäre die Platte auf Tonband aufgenommen und die Spule zu Ende, woops.

Fantasievoll kurvt Tellier uns mit einem Raumschiff auf dem Exit aus der Welt unserer Häuser hinaus ("the spaceship will learn how we feel") und landet in "Domestic Tasks" in einer kakophonischen Explosion von Tönen. Selbst die penetrante Wiederholung ein und derselben Songzeile aus dem Munde des Franzosen wirkt dank der unterliegenden Synthie-Modulationen auch beim 20. Mal noch spannend.

Zeilen bilden hier lediglich Settings, zeichnen einen Raum, imaginieren eine Atmosphäre. Doch auch wenn Tellier mit wenig Text auskommt, singt er doch fast ständig auf dieser Platte. "Dieses Mal", meint er, "habe ich die Songs um meine Stimme herum arrangiert: Ausgangspunkt war immer die Gesangsmelodie. Ich wollte ein Macher von Melodien sein."

Die blubbernden und bei "Hazy Feelings" an Daft Punk erinnernden schrill-hohen und brummend-tiefen Klänge erobern schnell das Kurzzeitgedächtnis, man summt sie nach dem Hören auch einfach weiter. Wenn es bei anderen Pop-Platten eine Beleidigung wäre, zu sagen, sie eignen sich fürs Putzen, Kochen und Haushaltsarbeit, so ist dies bei "Domesticated" ein Kompliment. Denn der One Man-Soundgestalter fand seine Inspirationen ausgehend von Küchengeräten und einem Staubsauger. Nicht ungewöhnlich, hat Kate Bush doch mal ein Album über ihre Waschmaschine und das Beobachten, wie sie sich dreht, gemacht. "Domesticated", der Albumtitel, steht für "gezähmt" und behandelt Telliers Selbstbeobachtung als häuslich gewordener Familienvater. 

Weil sich zum wilden Komponieren im gezähmten bürgerlichen Lebensstil selten Gelegenheiten von selbst ergeben, nutzte der Songwriter die produktive Phase "zwischen dem Schlafen und dem wirklichen Wachsein", legte spätestens 20 Minuten nach dem Aufwachen los und schrieb hunderte Songideen auf, nutzte "(...) einen Zustand, in dem alles noch ein wenig vage, verschwommen ist. Wie in einer Wolke. An dem Punkt sind auch die Gefühle am dramatischsten. (...) Ich versuche einfach, an dieses Traumgefühl anzuknüpfen." Entsprechend surreal mutet zum Beispiel "Atomic Smile" an, in dem er seine Stimme auch durch die Elektronik verfremdet, ein häufig genutzter Effekt auf "Domesticated".

Dass der Pariser hiermit sein Älterwerden vertont, erschließt sich nur, wenn man es weiß oder hinter dem Albumtitel einen Sinn sucht. Dass viele Menschen während des "Shutdowns" ihren Keller ausgemistet haben, um irgend etwas Nützliches zu tun, ist für Tellier, der wegen Corona sein Album verschob, nichts Überraschendes, sieht er den modernen Menschen doch als "Gefangenen unserer häuslichen Pflichten (...) – denn beim Menschen ist es nun mal so, dass wir eigentlich gar nicht existieren können, wenn wir keine größere Aufgabe haben." Dürfen wir nirgends hin und, wie in Paris, das Haus monatelang kaum mehr ohne Genehmigung verlassen, zeigt sich doch trotzdem der Drang wenigstens zu Hause alles im Griff zu haben und Herausforderungen zu meistern.

Allerdings muss man Telliers Album doch kritisch hinzufügen, dass es bei aller Ästhetik doch vor allem auf vertraute Kunstgriffe setzt. Das Ergebnis punktet zwar mit Eingängigkeit und faszinierenden Melodien, revolutioniert aber nun nicht gerade die elektronische Musik und wirft auch keinen zwingenden Hit-Song ab. Was "Domesticated" aber leistet, ist schnuckeliger Wohlklang.

Trackliste

  1. 1. A Ballet
  2. 2. Stuck In A Summer Love
  3. 3. Venezia
  4. 4. Domestic Tasks
  5. 5. Oui
  6. 6. Atomic Smile
  7. 7. Hazy Feelings
  8. 8. Won

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