laut.de-Kritik

Monotonie als Strategie: Nie wurde man schöner eingelullt.

Review von

Das vierte Album der Indie-Avantgardisten Stereolab fasziniert schon mit dem bizarren Namen (entlehnt von einem japanischen Film aus dem Jahr 1971 namens "Tomato Kecchappu Kôtei") sowie dem grellgrafischen Retro-Cover (basierend auf einer Schallplattenhülle von 1964 zu Béla Bartóks "Concerto for Orchestra"). Flankiert von diesen extravaganten Referenzen steigt man dann vom ersten Ton an ein in das spacige Nerd-Karussell-Universum von Chanteuse Lætitia Sadier und ihrem Komplizen Tim Gane (Gitarre und Synths), die alle Songs von "Emperor Tomato Ketchup" schrieben.

Wobei "einsteigen" eigentlich das unzutreffende Wort ist, man wird hier förmlich eingesaugt in einen so komplexen wie katzenschnurrenden Soundteppich, gewoben aus Streicher-Arrangements, Singsang-Parts, Synth-Orgien, Soundtrack-Erinnerungen und so vielem mehr. Ein Song auf dem Album heißt passenderweise dazu "The Noise Of Carpet".

Charakteristika vieler Songs ist die scheinbare Monotonie, die Stereolab ausbreiten, doch unter dieser Oberfläche geschieht sehr viel, während der Hörer in einen fast tranceartigem Hypnosezustand geschickt wird: Oft melden sich kleine Gegenmelodien oder Gegengesänge (von der leider viel zu früh im Jahr 2002 nach einem Fahrradunfall verstorbenen Mary Hansen), die im Untergrund brummeln. So heißt der Opener treffenderweise "Metronomic Underground", in dem ein Beat wie ein Uhrwerk den Song regelrecht vorantreibt und Kraut mit Electronica vermählt.

In Sachen Genres zeigt sich die Band sowie so geschmackssicher wie gewandt, es finden sich Spacerock, Sixties-Pop, Lounge-Elemente wie auch Easy Listening in Stereolabs uniquen Klangkonstruktionen, die oft um repetitive Soundfolgen kreisen und von dronigen Soundflächen aufgefangen werden. Die Einflüsse von solch disparaten Acts wie Neu!, Burt Bacharach, Philip Glass, Françoise Hardy, Beach Boys bis hin zu Kraftwerk sind zudem unüberhörbar und bilden einen Referenzchor, der erstaunlich harmonisch in seiner Zusammensetzung wirkt.

Sadiers Stimme macht ebenfalls einiges von der Einzigartigkeit Stereolabs aus, ihr Gesang entwickelt mit einer Mischung aus Distanziertheit und Charme einen zusätzlichen hypnotischen Effekt. Besonders beeindruckend ist diese Meisterschaft in Monotonie beim Titelsong zu sehen, in dem sich über einen simplen immer gleich bleibenden Beat die Vocals geradezu emporschlängeln, während die blubbernden analogen Synths den Song zu einem rauschhaften Finale treiben.

"Emperor Tomato Ketchup" gilt vielen als das absolute Meisterwerk der Band, ein Song fließt geradezu in den anderen. Maßgeblichen Anteil an den Arrangements hatte hier John McEntire (Tortoise, The Sea And Cake). Im Gegensatz zu den frühen Alben der Band ist hier kaum noch etwas von ihrer Rohheit zu hören. Der poppige wie vielschichtige Ansatz führte zu dem definierenden Moment und der eigentlichen Geburt der "Marke" Stereolab. Das Anhören dieses Albums zeigt, welch wichtige psychologisch, philosophisch wie politisch schlaue Band Stereolab sind – ohne dass dies auf den ersten Blick irgendwie sichtbar würde, dazu spinnen sie ihr musikalisches feines Netz zu clever.

Und so ist es nur folgerichtig, dass auch diese Band der Neunziger im Jahr 2019 wieder auf Tour ist und alle ihre sieben Alben remastered wieder herausbringt. Doch der Kaiser, "Emperor Tomato Ketchup", bleibt natürlich der strahlendste Vertreter unter den herausgeputzten Werken.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Metronomic Underground
  2. 2. Cybele's Reverie
  3. 3. Percolator
  4. 4. Les Yper-Sound
  5. 5. Spark Plug
  6. 6. OLV 26
  7. 7. The Noise Of Carpet
  8. 8. Tomorrow Is Already Here
  9. 9. Emperor Tomato Ketchup
  10. 10. Monstre Sacre
  11. 11. Motoroller Scalatron
  12. 12. Slow Fast Hazel
  13. 13. Anonymous Collective

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