laut.de-Kritik

Der Rhythmus der Vorhölle.

Review von

Suicide hörte ich zum ersten Mal im Ferienlager der katholischen Pfarrjugend Hl. Geist. Ich muss 13 Jahre alt gewesen sein, durfte endlich mit den Älteren länger aufbleiben. Am Lagerfeuer hatten wir ein Radio, einer der Gruppenleiter hatte eine selbstgebrannte CD mit der Aufschrift "Irrer Scheiß" mitgebracht. Um Mitternacht wurde die Scheibe eingelegt, es folgten seltsamer Lärm, grusliges Gejaule, erratisches Gestöhne, und das Allergrusligste, ein Lied namens "Frankie Teardrop" – es vereinte allen genannten Wahnsinn in absoluter Perfektion.

Auf dem Höhepunkt eines nicht enden wollenden Terrors aus hämmerndem Rhythmus und sägendem Monoton stieß der Sänger markerschütternde Schreie aus: ein Schuss, ein Kindstot, dann die Vorhölle, in der die Selbstmörder (offiziell nicht mehr) weilen. Dass ein Lied, dessen Text ich damals kaum verstand und dessen musikalische Mittel für mich nicht zu entschlüsseln waren, mir so viel Unbehagen bereiten konnte, beeindruckte mich. Unbeholfen, weil verängstigt, kicherten wir am Lagerfeuer, legten uns in unsere Zelte und schliefen unruhig, vergaßen das Gehörte nie mehr.

1977 ist der Maler und Sänger Boruch Alan Bermowitz alias Alan Suicide, mittlerweile Alan Vega genannt, schon 39 Jahre alt. Martin Reverby als Martin Rev ist knapp zehn Jahre jünger als sein Duo-Partner Vega, mit dem er bereits seit 1969 zu tun hat. Wechselnde Besetzungen entstehen, mal ein Gitarrist, mal eine Schlagzeugerin gesellen sich zu den beiden selbsternannten Sonderlingen. Aus New York City haben sie es bisher noch nicht heraus geschafft, ihre performativen Ansätze zu akustischem Getöse finden bislang im Untergrund der Kunsthochschulstudenten statt – erst ein Plattenvertrag mit dem von Marty Thau gegründeten Plattenlabel Red Star Records ändert diese Umstände.

Thau zeichnet zu diesem Zeitpunkt bereits für Meisterwerke wie Van Morrisons "Astral Weeks" mitverantwortlich, das unter seiner Riege bei Inherit Productions entsteht. Im Plattenbusiness gilt er bereits als Wunderkind, mit feinem Gespür für große Kunst, aber noch schlecht ausgebildetem Riecher für ordentliche Kassenschlager. "Suicide", das selbstbetitelte erste Album von Suicide wird genau wie "Ramones", das erste selbstbetitelte Album der Ramones, von Craig Leon produziert.

Atemlos eröffnet "Ghost Rider" die Platte, Suicides bis heute am meisten rezipierter Song. 1994 erlebte dieser sein erstes großes Revival als Henry Rollins ihn mit seiner Band für den Soundtrack zum Kultfilm "The Crow" coverte. "Ghost Rider" führt unmittelbar alle Elemente des charakteristischen Sounds der Band ein: Hämmernde, simple Drummachine, dröhnender, angezerrter Orgelsound, Halleffekte aus dem jamaikanischen Dub entliehen und Alan Vegas einzigartiger Gesang, der sich zwischen Sprachfragtmenten, Elvis-Imitation und möglichst unmaskulinem Gekreische bewegt: "Ghost Rider motorcycle hero! Hey baby baby baby – he's a-lookin' so cute! [...] America, America is killin' it's youth!"

Vega benutzt die gängigen Irritationwerkzeuge seiner Zeit, verflicht Comichelden, Homosexualität, Rockabilly und den sogenannten Amerikanischen Traum zu einer albtraumhaften Sequenz. "Ghost Rider" ist die Transformation von Kenneth Angers legendärem Kurzfilm "Scorpio Rising" in 2:34 Minuten No-Wave, Elektropunk, Hippieekel.

Inhaltlich ähnlich gestaltet ist "Rocket U.S.A.", das den Hörer genau wissen lässt, mit welchen kontemporären Verhältnissen er sich hier gefälligst zu beschäftigen hat. Die Ölkrise hat die Muscle Cars auf den Schrottplatz verbannt, im TV die immerselben Lügen, Nashville will keiner mehr hören, bleibt nur noch Heroin und die Liebe: "It's nineteen seventy seven / Whole country's doing a fix / It’s doomsday doomsday!"

Nach so viel Speed und Politik, Agonie und Apokalypse kommt mit "Cheree" als drittem Song eine zuckersüße Bubblegum-Ballade, die sich eindeutig an Serge Gainsbourgs "Je t'aime" orientiert, sogar französisch sein will, aber im Kontext des bisher Gehörten deutlich grusliger, also sehr US-amerikanisch tönt. In eine warme Badewanne aus Klang darf sich der Hörer plötzlich legen, Schweißperlen von der Haut lecken, liebliche Glöckchen spielen ein Kinderlied zum lustvollen Stöhnen des Sängers.

"Johnny" spart sich zwar das "B. Goode" im Titel, ist aber trotzdem der am eindeutigsten von Alan Vegas Kindheitshelden aus den Tages des unironischen Rock'n'Roll inspirierte Song. Vom Gestus eines neunmalklugen Post-Elvis kam er Zeit seines Lebens nicht mehr los, seine ersten Solo-Alben kreisen beständig um diese Erinnerung an die goldenen Jahre der Eisenhower-Präsidentschaft, die LP "Saturn Drive" von 1983 lässt davon nicht ab, genau so wenig seine größte Hitsingle "Jukebox Baby", drei Jahre zuvor.

Während Richard Hell und Johnny Thunders sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort fragten, was sie noch Sinnvolles mit ihrer Stromgitarre anfangen könnten, erklärte Vega in seinem Weisheitsvorsprung von einer Dekade sämtliche musikalische Anstrengungen für nichtig. Trauer und Wut über bittersüße Jahrzehnte mit Wirtschaftswunder und evangelikalen Moralvorstellungen sowie der bittere Verrat sämtlicher Illusionen der Wohlstandsgesellschaft standen für ihn, dem Sohn osteuropäischer Immigranten erster Generation im Vordergrund. Sein künstlerisches Thema blieb auch musikalisch die Selbstentfremdung vom Kinder-Ich, in ständigem Abgleich mit dem Land in dem er groß wurde.

Suicides erstes Album ist mit 32:07 Laufzeit schnell gehört, die restlichen Songs sind mehr oder weniger eingängige Variationen der ersten. "Che" stellt zum Abschluss noch klar, dass sämtliche Kommunismusassoziationen, insbesondere der Rote Stern auf dem Cover und im Label-Namen, wirklich reine Provokation sind und die Protagonisten über sämtliche ideologische Ansätze erhaben sind: "Che, Che / He's wearing a red star / Smoking his cigar / And when he died / The whole world lied / They said he was a saint / But I know he ain't".

Nur noch das nachfolgende "Second Album" ist zum Verständnis von Suicides Vermächtnis nötig, dann hat man Revs und Vegas Beitrag zum popkulturellen Diskurs erfasst. Darauf ist auch "Dream Baby Dream" zu finden, welcher ihr schönster Song überhaupt geworden ist; auch Bruce Springsteen musste dies anerkennen und übernahm ihn zeitweise live in sein Repertoire. Der nachhaltige Einfluss des Duos aus New York City ist nicht zu unterschätzen, nicht nur die unschuldigen Leben ahnungsloser Teenager der katholischen Pfarrjugend Hl. Geist wurden erschüttert.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Ghost Rider
  2. 2. Rocket U.S.A.
  3. 3. Cheree
  4. 4. Johnny
  5. 5. Girl
  6. 6. Frankie Teardrop
  7. 7. Che

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