laut.de-Kritik
Retro-Pop als Resonanzkammer des Geschehens.
Review von Hannes HußThe 1975 machen es mir nicht leicht. Quasi alles an dieser Band lässt die Alarmglocken schrillen. Die ganze exaltierte Persona Matty Healys mit seinen ständigen Stylewechseln, der extrovertiert ausgelebten Introvertiertheit und Johnny Borrell-Gedächtnis Klappe. Die Fans, mehrheitlich junge Mädchen im Abiturientenalter, ausgestattet mit einer unwahrscheinlich großen Liebe/Obsession für die Band. Der bloße Fakt, dass es sich um vier weiße Jungs aus Großbritannien handelt, die gitarrenlastige Musik machen. Der verschwurbelte Titel des Zweitlings "I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet Unaware Of It" ....
Obendrein die NME-Kritik zum neuen Album "A Brief Inquiry Into Online Relationships", dessen Titel der Schwurbelei des Vorgängers noch eine gehörige Portion Größenwahn beimischt: Die Kollegen dort zücken die Höchstwertung, ein imaginärer Ritterschlag. Anscheinend haben wir es mit einem "OK Computer" des 21. Jahrhunderts zu tun.
Ihr seht schon, über The 1975 zu schreiben, kann leicht in zynischer Ablehnung dieses modernen Retro-Pops münden. Ebenso leicht kann man sich aber auch einfach auf die Band einlassen. Matt Healys Talent als Songwriter anerkennen. Die ganzen jungen Mädels ignorieren. Den Titel und seinen Anspruch beim Wort nehmen. Eine ähnliche Haltung hat schon letztes Jahr geholfen, als es um Harry Styles ging: Bei dessen Solodebüt klingelten noch mehr Alarmglocken (OneDirection-Mitglied, hauptsächlich). Trotzdem war das verblüffend gelungen.
"A Brief Inquiry Into Online Relationships" geht noch einen Schritt weiter. Das Album ist nämlich nicht nur unerwartet gut, sondern überraschend genial und klug noch dazu. Musikalisch schlägt es immer wieder neue Haken und bietet eine Fülle an Stilrichtungen an, ohne zerrissen oder inkonsequent zu wirken. Dieses Kunststück hängt vor allem mit Sänger Matty zusammen. Der kann nämlich nicht nur sein Outfit schneller wechseln als andere Leute ihre Unterhosen, sondern auch seine Sängerpose.
Deshalb funktioniert die friedliche Koexistenz des angepissten Politik-Shouters "Love It If We Made It" neben der Ed Sheeran-Imitation "Be My Mistake". Vor allem ersteres entpuppt sich als ein Monster. Die Basedrum kickt ordentlich, die Synthesizer herrlich organisch, die Gitarre wechselt zwischen vocaltragenden Powerchords und kurzen Riffs im Break. Mein gesamter Freundeskreis reagiert auf meine Begeisterung für diesen Song längst höchst genervt.
Dazu kommen noch Lyrics, deren Prägnanz und Intelligenz ich gar nicht hoch genug loben kann. "Fucking in a car / shooting heroin / saying controversial things / just for the hell of it" läutet eine große Politnummer über Black Lives Matter und den Stand der Welt ein. Immer wieder konstatiert Matty: "Modernity has failed us."
Auch Vocoder-Folk im Stil von "22, A Million" wird geboten. Bei "I Like America & America Likes Me" zeugt schon wieder allein der Titel von Größenwahn. Wer allerdings mit seinem letzten Album auf Platz eins der US-Charts gelandet ist und auch jenseits des Atlantiks Hallen füllt, darf durchaus davon ausgehen, von Amerika geliebt zu werden. Wo das aber die angekündigte Hommage an Cloud-Rap sein soll, erschließt sich mir nicht ganz. Höchstens textlich. "Is that designer? / Is that on fire?" Ziemlich lässig ist die Verknüpfung des Cloudrap-Themas "Supreme" mit Waffen: "Kids don't want rifles / they want Supreme."
Ein starkes Duo bilden die Songs "It's Not Living (If It's Not With You)" und "Surrounded By Hearts And Bodies". Beide beschäftigen sich mit der Heroin-Abhängigkeit von Sänger Matty, aber mit ganz anderen Mitteln. Für den ersteren, eine 80es-infizierte Indie-Nummer, erschafft er die Figur namens Danny, einen heroinabhängigen Tankwart, durch den er über sich selbst singt. "If I choose then I lose" liefert ein mustergültiges Beispiel für seinen reflektierten Umgang mit dem Thema. Er glorifiziert nichts, nimmt aber auch keine Opferrolle ein. Obwohl ein Süchtiger, ist er immer noch Mensch, der gegen seine Sucht ankämpft.
Der Kampf gegen diese führte den Sänger dann auf Barbados in eine Entzugsklinik. Dort arbeitete er mit Pferden und lernte eine andere Rehabilitantin, Angela, kennen. Ihr widmet er die ruhige Gitarrenballade "Sourrounded By Hearts And Bodies", die nur aus drei kurzen Strophen und eben einer Gitarre besteht. Gerade diese Simplizität verleiht dem Song eine bestechende, schwerelose Schönheit.
Heroin hat aber nicht nur diese zwei Nummern ermöglicht, sondern auch die Band fast entzweit. Beim gemeinsamen Abendessen wütete ein berauschter Matty gegen seine Bandkollegen und Kindheitsfreunde, dass er nicht plane, mit dem Drogenkonsum aufzuhören. Wenn sie weiterhin Musik machen wollten, dann haben sie gefälligst damit klarzukommen. Er schreibe die Songs, und damit basta. Diese Einstellung überlebte allerdings nicht einmal die folgende Nacht, am nächsten Morgen gab es ein großes Sorry und den Entschluss zum Entzug.
Musikalisch gibt es außerdem die leichtfüßige Synthie-Pop-Nummer "TOOTIMETOOTIMETOOTIME", die sich mit Untreue zwischen Partnern beschäftigt und damit, welche Rolle das Internet dabei spielt.
Ganz tief im Netz steckt auch "The Man Who Married A Robot / Love Theme". Healy tritt vom Mikrofon weg und überlässt seinen Platz Siri. Ja, richtig gehört: Die kleine Stimme aus den iPhones übernimmt hier. Leider nicht mit Gesang, sondern mit Spoken Word. Es geht um einen Mann, dessen bester Freund das Internet ist, der sich also in eine Parallelwelt zurückgezogen hat.
Dazu erklingt lediglich ein plätscherndes Klavier, bevor der zweite Teil "Love Theme" Streicher dazu holt. Einen kleinen politischen Seitenhieb hält der Song auch noch parat. Der Protagonist wird "SnowflakeSmasher86" genannt, scheint also ein Angehöriger der Right-Wing-Bewegung zu sein.
Wie nah sich The 1975 am Puls der Zeit bewegen, lässt sich ganz einfach über "Sincerity Is Scary" bestimmen. Beschwingter Neo-Soul trifft auf die große Beschreibung der postmodernen Gesellschaft. Ironie statt Ernsthaftigkeit. Ironie statt echter Gefühle. Was man eben so macht, wenn man die eigenen Emotionen nicht zeigen will.
Dass Healy diese Zeitkritik (die auch Kritik an sich selbst birgt) mit dem Ende einer Beziehung verquickt, zeigt wohl seine größte Begabung. Indem er seine eigenen Erfahrungen gleichberechtigt neben seine Observation der Welt stellt, wird er zum Teil der Welt um ihn herum.
Dass ich jetzt so viel über den Frontmann geschrieben habe, liegt auch an seiner medialen Überpräsenz. Von Pitchfork über den Rolling Stone bis hin zu Vulture, alle haben sie größere Artikel oder Interviews nur mit ihm. Er ist das öffentliche Gesicht der Band und mit all seinen Neurosen und Drogengeschichten auch ihre interessanteste Person.
Allerdings sind auch seine Bandkollegen wahre Meister ihrer Disziplinen. Drummer George Daniel hat als Produzent einen gehörigen Teil zum abwechslungsreichen Sound des Albums beigetragen. Adam Hann liefert vor allem auf "Give Yourself A Try" eine Mördergitarre ab, und Ross MacDonalds Bassfills könnten ganze Songs tragen, wenn man ihn denn nur ließe. Muss man aber nicht. Jeder Song ist so reichhaltig orchestriert, dass die Bandmitglieder ihr individuelles Können nicht zur Schau stellen müssen.
"A Brief Inquiry Into Online Relationships" ist DAS Album des Jahrzehnts. Natürlich gab es bessere, etwa mein 2015er-Highlight "Carrie & Lowell", das außergewöhnliche "James Blake" oder, erst letztes Jahr, "A Deeper Understanding". Mir persönlich hat dieses Jahr auch das Snail Mail-Debüt "Lush" besser gefallen. Aber keines dieser Alben bildete den Zeitgeist nur annähernd so präzise ab, wie es The 1975 hier erledigen. Auch musikalisch ist ihr Stilblütenmix ein Produkt ihrer Generation.
Dazu passt am besten ein Zitat von Julian Dörr, der in der Süddeutschen über Harry Styles geschrieben hat: "Er ist ein Kind des Internets. In seiner Welt hat die gesamte Pop-Geschichte schon immer gleichzeitig stattgefunden. Wenn alles jederzeit verfügbar ist, was sagen dann noch Epochen aus? Oder Genres?"
Auch für die vier Jungs auch Manchester ist die Entwicklung der Musik keine horizontale Geschichte, sondern eine vertikale. Daraus beziehen sie ihre Vielfalt und klingen dennoch konsistent. Niemand identifiziert sich im Jahr 2018 noch über Genrezugehörigkeit. Entweder ersetzt diese im Makromodus die Verbundenheit zu einer Band (siehe The 1975-Fans), oder man wischt sie einfach komplett beiseite.
Matty Healy hat das ganz genau verstanden und dem Jahr 2018 das Album beschert, das es verdient. Zerklüftet entlang unmöglichster Linien, dennoch vereint. Sein Pop funktioniert nicht im leeren Raum, sondern als Resonanzkammer der Geschehnisse um ihn herum.
10 Kommentare mit 5 Antworten
Was ist kaputt mit der Musikpresse? Die Pop-Blaupause vor zwei Jahren geschmäht und für einen derartigen Schlaganfall überall Höchstwertung? Ist das diese soziokulturelle Identifikation?
Versteh es auch nicht. Was ich bis jetzt gehört habe war irgendwo zwischen ok und gut, mehr aber auch nicht.
Na ja, klingt wie Neon Neon vor zehn Jahren, nur langweiliger. Von daher ist die Wertung eher ein Witz.
Ich vertraue hier dem Urteil von Damien Sayell:
"Since I was I boy I've experienced Frisson when listening to music. When a song is 'right' the sensation can be overwhelming, and when a song is 'wrong' my stomach turns. I've always judged music by these two sensations and thus, The 1975's new album is unequivocally 'wrong'."
https://twitter.com/TSPSI/status/106848264…
An diesem Album scheinen sich die Geister zu scheiden. Ich finde gerade den Kontrast zwischen fast radiotauglichen 80er-Pop-Songs und den Teils mehrstimmigen Autotune-Experimenten sehr reizvoll und Up-To-Date.
[https://tagpacker.com/user/peterhbg?t=The_… Inquiry Into Online_Relationships_*****]
https://www.peter-hamburger.de/blog/the-19…
Ich würde die mehrstimmigen Autotune-Sachen aber nicht als „Experimente” bezeichnen, die sind schon seit Jahren Teil des Mainstreams (und ich kann sie nicht mehr hören).
Ich finde viele Stellen des Albums ganz interessant. Ästhetisch finde ich es sehr anstrengend, eben weil es sehr viele für mich unerträgliche Teile von moderner Mainstream-Pop-Musik enthalt.
Eine schlechte Wertung würde ich dem Album nicht geben, eben weil es an vielen Stellen ganz kreativ gemacht ist. Aber 5/5 ist eindeutig maßlos übertrieben.
Sehr gelungenes Album mit wenigen Aussetzern (z.B. be my mistake). Die Fähigkeit purer Pop zu sein und gleichzeitig sehr eindeutig aus dem aktuellen Mainstream-Popbrei herauszustechen ist erfrischend. Dieser Art von Eingängigkeit kann ich mich nur schwer entziehen. Gudde Pladde!
Vermisse den roten Faden im Album, teilweise gute Nummern drin, jedoch in einem für mich nicht harmonischen Mix im Album. Daher nur 3/5.