laut.de-Kritik
Anneke van Giersbergen macht Ayreon vergessen.
Review von Manuel BergerWas erwartet man von einem Lucassen-Release? Komplexe durchdachtes Songwriting, abwechslungsreiche Arrangements, große Melodien, Innovation und Progressivität, ein Starensemble. Abgesehen von Letzterem bietet "The Diary" all das. The Gentle Storm steht dem Hauptprojekt des Holländers, Ayreon, qualitativ in absolut nichts nach.
Trotz der unübersehbaren Parallelen im Sound, insbesondere zum letzten Ayreon-Longplayer "The Theory Of Everything", macht ein direkter Vergleich wenig Sinn. Erstens ist, wie gesagt, keine komplette Riege an Vokalisten an Bord. Die vermisst man angesichts der brillierenden Anneke van Giersbergen jedoch kein bisschen. Zweitens entpuppen sich die Songs als wesentlich kompakter und griffiger als die ausufernden Opern Ayreons.
Drittens herrscht eine klare Trennung zwischen reiner Akustik und elektrisch verstärktem Bombast. "The Diary" kommt als Doppelalbum daher, auf dem sämtliche Songs in zweifacher Ausführung vorhanden sind. Die erste Seite, "Gentle", präsentiert ein feingliedriges Kammerkonzert. "Storm" transferiert die Tracks ins prall gefüllte Opernhaus und lässt Zerrgitarren sprechen. Allerdings sollte man seine Erwartungen diesbezüglich etwas drosseln. So grundverschieden wie sich das zunächst anhören mag, sind die beiden Ausführungen nämlich nicht. Eine schöne Dreingabe aber allemal.
Unterschiede machen sich in der durch die Instrumentierung (Drumkit statt Percussion, über weite Strecken Keyboards und Gitarren statt Streicher, Klavier und Hackbrett, Blechbläser sorgen für Epik) bedingte, wesentlich wuchtigere Basisatmosphäre von "Storm" bemerkbar. Vor allem aber in den Vocalparts.
Während Anneke auf "Gentle" zarte Intimität versprüht, erklingt sie gebettet in das dichte "Storm"-Arrangement ungleich kraftvoller, stellenweise fast majestätisch. Nightwish lassen hier grüßen ("The Greatest Love"). Mit dem Zusatz, dass sich von Arjen Lucassens Kompositionskunst auch Tuomas Holopainen noch eine Scheibe abschneiden kann.
Das was "The Diary" jedoch besonders herausragend macht, ist nicht "Storm". Es hat durchaus seine Berechtigung, warum auf Seite eins "Gentle" steht. "Gentle" gelingt es, den Songs all ihre feinen Nuancen zu entlocken. Verglichen damit wirkt "Storm" geradezu leblos – was es natürlich ganz und gar nicht ist. Doch erst in der Fragilität entfalten die Melodien ihre vollkommene Schönheit. Im Opener "Endless Sea" agiert Anneke über spärlicher Percussionbasis fast schon in A-capella-Manier. Aus dem Mix schiebt sich langsam eine Querflöte nach oben, die mit ihrem Solo im letzten Drittel für ein erstes Highlight sorgt.
Mit Rock oder gar Metal hat "Gentle" nichts mehr am Hut. Es regieren Folk, Barock, Renaissance. Lucassen und van Giersbergen begeben sich als Entdecker in die niederländische Historie, erwecken in "Heart Of Amsterdam" mit tänzerischer Leichtfüßigkeit die Hafenstadt zum Leben und lassen gleichermaßen deren vergangene Dekadenz und Künstlerromantik auferstehen.
Anneke wandert als träumerisches Naivchen durch die Gassen, erkundet sehnsuchtsvoll die "Shores Of India", gewährt der Melancholie Einlass ("Epilogue: The Final Entry"), gibt die nachdenkliche Hoffnungsträgerin ("New Horizons") und geheimnisvolle Geschichtenerzählerin ("Cape Of Storms"). Die dabei entstehenden Gesangsmelodien und offenbarte Variabilität der Townsend-Muse sind schlichtweg unvergleichlich und stehlen dem nicht minder grandiosen Schreibewerk Lucassens des Öfteren die Show. Dagegen kommt auch die geballte Stimmkraft der Ayreon-Ensembles nicht an.
Eine feste Größe der "Gentle"-Rhythmusgruppe stellt der Kontrabass dar. Häufig als Ruhepol, mitunter jedoch ebenso als Taktgeber ("Eyes Of Michiel"). In dieser Rolle fühlen sich naturgemäß auch die Percussions wohl. Deren dynamische Bandbreite prägt den Verlauf der Stücke entscheidend. Manchmal setzen sie nur pointierte Ausrufezeichen, lauern im Untergrund, setzen dramaturgisch durchdacht aus oder steigern sich beständig, um dann gegen Ende einer beschwingten Ballade à la "Eyes Of Michiel" noch den treibenden Höhepunkt zu erschaffen.
Darüber ergießen sich Klavierkaskaden und ekstatisches Violinspiel ("The Storm") oder aber leichte Melancholie macht sich in getragenen Streicherpassagen breit. Bisweilen beinhaltet ein Song auch von allem etwas. Im Facettenreichtum von "The Moment" beispielsweise treffen Tanzbarkeit, Tragik und Erhabenheit aufeinander.
Gleichzeitig Kleinod und großangelegtes Opus hat die Musik in selbem Maße Ohrwurmpotenzial wie sie nach Aufmerksamkeit verlangt. "The Diary" ist nicht einfach nur eines von vielen Alben der Lucassen-Diskographie. Es sticht selbst aus dieser Ansammlung hochqualitativer Outputs hervor. Man kann nur hoffen, dass es The Gentle Storm nicht nur bei diesem einen Release belassen. Die Zeit wird zeigen, ob Anneke van Giersbergen und Arjen Lucassen mit "The Diary" einen neuen Prog-Meilenstein gesetzt haben. Gut möglich.
1 Kommentar mit 2 Antworten
Wunderschönes Album. Der Rezession ist nichts mehr hinzuzufügen auch wenn ich persönlich Ayreon den Vorzug geben würde, da Lucassen sich dort abwechslungsreicher gestaltet.
Das Wort Rezession solltest du evtl. noch mal googlen.
Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil