9. Juli 2020

"Es ist einfach derzeit, Alkoholiker zu werden"

Interview geführt von

Ein gut gelaunter Mike Skinner erzählt im Interview vom neuen Mixtape "None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive" und seinem Ansatz, alles über Bord zu werfen, was kompliziert ist.

Der Nachteil an Zoom-Interviews aus dem Home Office ist, dass man vorher aufräumen muss. Oder man positioniert die Kamera so, dass das Chaos im Home Office für das Gegenüber gar nicht zu sehen ist. Selbst wenn man das alles bedenkt, entgeht einem Luchsauge wie Mike Skinner aber nicht, dass die Wand im Hintergrund mal wieder gestrichen werden müsste. Das Interview ist gerade einmal 30 Sekunden alt und man sieht sich schon den Witzen des 41 Jahre alten Briten ausgesetzt.

Seit 1994 rappt er unter dem Namen The Streets und hat zwischen 2002 und 2011 fünf Alben herausgebracht. Danach schickte er die Streets für mehrere Jahre in Rente, bis er in diesem Jahr sein großes Comeback startete, das die Menschheit zufälligerweise zur gleichen Zeit wie eine globale Pandemie befiel. Warum er "None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive" als Mixtape und nicht als Album bezeichnet, wie er Kevin Parker von Tame Impala als Featuregast an Land gezogen hat und warum er sich darauf freut, vor deutschen Autos zu spielen, erzählt er im Interview mit laut.de.

Wie sieht so ein durchschnittlicher Tag für dich während des aktuellen Lockdowns aus?

Ich bin natürlich immer zuhause. Was ich so den ganzen Tag mache, ist von Tag zu Tag unterschiedlich. Für ungefähr vier, vielleicht sechs Wochen hab ich ein Video gedreht - "I Wish You Loved Me As Much As You Loved Him". Den Großteil des Lockdowns hab ich damit verbracht. Hat sich aber nicht wirklich wie Arbeit angefühlt. Eher wie eine Online-Vorlesung, weil ich dabei so viel gelernt habe. Ich musste das Zeug aber lernen. Sonst mache ich manchmal Promo so wie jetzt, wenn ich mit Leuten wie dir über mich selbst rede, was großartig ist. Ich komme sonst nicht ausreichend dazu, über mich selbst zu reden. Außerdem hab ich Songs aufgenommen. Vor kurzem hab ich mir die neue Akai MPC geholt und schon oft benutzt (hält die MPC in die Kamera). Die hat jetzt einen eingebauten Lautsprecher. Ich hab eine Menge Beats produziert in letzter Zeit, wo immer ich gerade war.

Auf einer Single hast du kürzlich gerappt: "For now, you're a model on Instagram / And I'm a soldier on Call of Duty". Entspricht das der Wahrheit?

(Lacht) Das war ein Witz. Ich bin nicht zu meinen Call of Duty-Tagen zurückgekehrt. Ich denke, dass wenn ich mit Zocken angefangen hätte, das wäre schlimm gewesen. Ich wäre süchtig geworden. Es ist glaub ich ziemlich einfach, Alkoholiker zu werden während dieses Lockdowns. Der einzige Grund, warum ich kein Alkoholiker geworden bin, ist, dass ich so beschäftigt bin. Es lief bis jetzt eigentlich ziemlich gut und ich hab meinen Kopf unten gehalten. Am Anfang hatte ich echt Angst. Das könnte mich umbringen - langsam. Womit ich wirklich nicht umgehen kann, ist Zucker. Für mich ist quasi jeden Tag Ostern. Ich esse so viel Schokolade, das ist verrückt.

Als ich erfahren hab, dass ich ein Interview mit dir führen werde, ist mir direkt eingefallen, dass du auf dem Soundtrack von einem Videospiel aus meiner Kindheit warst.

Fifa?

Genau, Fifa 2005. Ist es nicht verrückt, dass sich die Leute 15 Jahre später immer noch für dich und deine Musik interessieren und wissen wollen, was bei dir läuft?

Fifa war definitiv ziemlich gut für uns. Meine Musik war außerdem in so einem Film namens "Kidulthood", der ziemlich bekannt wurde. David Beckham - dank ihm hat es mein Song "Dry Your Eyes" auf Platz eins geschafft. Er hat eine rote Karte in einem wichtigen Spiel bekommen und dann wurde immer "Dry Your Eyes" gespielt. Man braucht schon eine Menge Glück in diesem Geschäft. Manchmal fühlt es sich an, als würde ich Poker spielen. Aber es gibt ja auch sowas wie gute Pokerspieler. Eine der echten Herausforderungen ist es, die Nerven zu behalten. You have to fake it 'til you make it. Wenn man die Nerven behalten kann und keine schlechten Entscheidungen fällt, wenn die Dinge mal nicht laufen, respektieren die Leute das letztendlich.

"Alkohol trinken ist ja auch spaßig, bis man es übertreibt."

Lass uns über dein Comeback reden: Hattest du Bedenken, dass sich die Leute nach so langer Abwesenheit nicht mehr für The Streets interessieren?

Ehrlich gesagt ist es so, dass sich die Leute nicht mehr für The Streets interessieren. Es ist offensichtlich. Ich lege ziemlich häufig auf. Diese Idee, dass ein DJ so eine Art Gott ist, ist absoluter Quatsch. Wenn ich auflege, erscheinen da vielleicht ein paar Fans mit meinen alten Alben, aber meistens kommen Leute in die Nachtclubs, die einfach feiern wollen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sich die Zeiten geändert haben. Das zu realisieren, hat mich aber auf jeden Fall zu einer stärkeren Person gemacht. Es erdet einen, zwingt einen quasi zur Demut. Es gibt einem aber auch irgendwie Selbstbewusstsein: Es ist egal, wer man ist, wenn man es richtig macht. Der Song, den ich mit Chris Lorenzo gemacht hab - "Take Me As I Am" - hat im Club Rewinds und Reloads bekommen, weil er so gut ankam, sogar bevor er veröffentlicht wurde. Und das sage ich als jemand, der auch viel Musik gemacht hat, die nicht besonders gut ist. Es gibt einem Selbstvertrauen: Niemand kann behaupten, dass "Take Me As I Am" kein Banger ist, wenn man ihn am richtigen Ort spielt. Man wird beim Auflegen also gleichzeitig geerdet und bekommt Selbstvertrauen, wenn man seine Sache gut macht. Genau darum geht's im Prinzip auf diesem Mixtape.

Warum nennst du es Mixtape und nicht Album. Siehst du da einen Unterschied?

Nein, keinen Unterschied. Ich nenne es Mixtape, weil es mir hilft, nicht alles zu verkomplizieren. Außerdem sind Kollaborationen und Features für mich ein wichtiger Teil von Mixtapes. Man kann zwar wie J. Cole ein Album ohne Features machen, aber kein Mixtape.

Auf dem Mixtape sind ja eine ganze Menge Features, wie hast du die ausgewählt?

Ich hatte eine Liste mit Leuten wie Hat Baker, Jimothy, Ms Banks... die meisten waren auf meiner Liste. Ich hätte mir aber nie erträumen lassen, dass wir einen Song mit Tame Impala machen würden.

Wie ist der zustande gekommen?

Jeder hört Tame Impala. Sie funktionieren einfach sehr gut mit dem, was ich mag - hauptsächlich Beatles-Lieder und Rap. Wir hingen einfach zusammen bei Festivals ab. Kevin mag meine Musik, es war also ziemlich einfach, nicht kompliziert. Die meisten Leute auf dem Mixtape waren auf der Liste. Slowthai und Matty Healy von The 1975 wollte ich eigentlich drauf haben.

Slowthai sollte eigentlich auf den Song mit Kevin Parker, richtig?

Yeah, das war der Beat. Ich weiß auch nicht genau, warum es am Ende nicht geklappt hat, aber it's all love, all love. Ich hab diesmal einfach die Gelegenheit ergriffen, nicht übermäßig über das Ergebnis nachzudenken. Wenn man morgens aufwacht und einen Song im Kopf hat, wie bei Take Me As I Am mit Chris Lorenzo... es fällt einem einfach ein, man macht es und es wird gut. Aber es hätte auch genauso gut nicht passieren können. Ich hab Chris Lorenzo einfach gesagt, lass' uns was zusammen machen und kam mit meinem wahrscheinlich besten Material seit Langem zurück.

Ist der Song mit Chris Lorenzo also dein Favorit auf dem Mixtape?

Ja, in dem Sinne, dass er einfach funktioniert, er ist ein Banger. Auflegen macht am meisten Spaß, wenn die Leute den Song genauso mögen, wie man selbst. Das versucht man alle fünf Minuten zu schaffen, wenn man auflegt und mit dem Chris Lorenzo-Song war es so. Die Songs, die gut ankommen, gehen meistens leicht von der Hand. Die meiste Zeit verbringt man an den Songs, die nicht so geradlinig sind. Bei diesem Mixtape hab ich versucht, alles möglichst unkompliziert zu halten und alles zu beseitigen, was nicht leicht von der Hand ging.

Du kannst dich vielleicht nicht mehr daran erinnern, aber laut.de hat dich schon zweimal interviewt. 2006 hast du gesagt, dass dir Handys sehr wichtig sind und du Technologie liebst. Hat sich daran was geändert?

Ich finde, es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Handys unser Leben verbessert haben: wenn man zum Beispiel in Kontakt mit seiner Mutter bleiben will, die sich abschirmen muss, damit sie nicht Corona bekommt. Die Tatsache, dass jeder ein Handy hat und es immer benutzt, sollte doch zeigen, dass Handys gut sind. Es sei denn, man übertreibt es. Das hab ich nämlich gemacht. Alkohol trinken ist ja auch spaßig, bis man es übertreibt.

Technologie kann aber doch auch etwas gruselig sein, denkt man zum Beispiel an diese Netflix-Serie.

Yeah, Black Mirror. Aber es ist doch alles irgendwie gruselig. Die Menschen verändern sich nicht. Wir sind dieselben Leute, mehr oder weniger, wie vor 10.000 Jahren. Wir machen immer wieder dieselben Fehler. Man muss es daher den Leuten nachsehen. Stabilität und Zusammenhalt machen uns menschlich. Wir sind besessen von Stabilität. Es gibt das Böse auf der Welt und es besteht die Möglichkeit für absolutes Chaos, aber wir haben immer diese leicht apokalyptische Denkweise. Ich weiß nicht, ob das aus dem Christentum kommt oder einfach eine menschliche Eigenschaft ist, aber wir haben unheimliche Angst vor dem Eintreten des schlimmsten Falls. Eigentlich tritt der ja nicht ein. Normalerweise ist es irgendwo in der Mitte. Diese Person macht etwas echt Schlimmes und jene Person wird zu mächtig oder so. Der Großteil der Geschichte des Menschen ist aber relativ stabil. Und zum Glück immer weniger brutal.

"Wenn dein Vater Rapper ist, siehst du wohl am besten, wie lächerlich die eigentlich sind"

Weg von Apokalypse und hin zu erfreulicheren Themen: Du hast mittlerweile zwei Kinder. Haben die schon realisiert, dass ihr Vater ein berühmter Rapper ist?

Schon, aber wir reden da eigentlich nicht drüber. Ich hab hier auch keine goldenen Schallplatten an der Wand. Ich glaub eher, dass es ein bisschen peinlich für sie ist.

Ist das nicht cool, einen Dad zu haben, der rappen und Musik produzieren kann?

Wenn dein Vater Rapper ist, siehst du wohl am besten, wie lächerlich die eigentlich sind. Wenn man als Teenager anfängt, Rap oder Fußball zu mögen, sind diese Leute wie Götter für dich. Sie unterscheiden sich so stark von deinem eigenen Leben. Du projizierst alles auf sie, was du im Leben sein willst. Und normalerweise will man ja nicht so sein wie seine Eltern. Wenn dein Dad also Rapper ist, willst du selbst lieber was anderes werden - ein berühmter Koch oder so.

Die letzten Jahre hast du aber ja auch gar nicht so viel gerappt, sondern vor allem als DJ gearbeitet. Hat es dich im Rahmen deines Tonga-Nightclub-Projekts auch mal nach Deutschland verschlagen?

Klar, wir waren sogar auch in der Nähe von euch in Zürich. Das war ein absolutes Desaster. Kennst du diesen Club da beim See? Ich hab da auch ein paar Mal mit The Streets gespielt. Weißt du, welchen ich meine? Da sind mehrere Hallen auf einen Haufen. Da haben wir eine Tonga-Nacht veranstaltet und es kamen ungefähr fünf Leute.

Ich wollte eigentlich nach dem Gegenteil fragen, was war das Verrückteste, was du auf den ganzen Parties so erlebt hast?

Berlin hat immer Spaß gemacht. Da waren wir ein paar Jahre lang. In Kopenhagen hatten wir eher wechselnden Erfolg. In London und Birmingham waren wir immer wieder. Das waren wirklich besondere Zeiten. Hab' ne Menge über mich selbst gelernt und über Musik. Ich hoffe, wir können diese Nächte bald wieder veranstalten.

Hast du dir da nicht einmal auch deine Schulter ausgerenkt beim Versuch, zu stagediven?

Ja, das war nicht cool. Das war in der ersten Nacht der zweiten Tour. Ich weiß echt nicht, was ich mir dabei gedacht hab. Ich hab beim Springen meine Arme ausgestreckt, was offensichtlich ziemlich prophetisch ist, um ein biblisches Wort zu benutzen. Grundsätzlich: Wenn ihr versucht zu stagediven, streckt nicht eure Arme aus. Das ist das Dümmste, was ihr machen könnt. Ich hab mir echt Sorgen gemacht, ob wir die Tour noch fortsetzen können.

Kürzlich hast du in einem Interview erzählt, dass du ein großer Fan von Rosalía bist.

Yeah, yeah.

Das hat mich etwas überrascht, deswegen die Frage: Was hörst du grade sonst noch gerne?

All das offensichtliche Zeug, was Hip Hop angeht. Roddy Ricch zum Beispiel. Während des Lockdowns vor allem Filmmusik. Nightclub-Musik hat mich ein bisschen genervt. Diese ganzen Livestreams hab ich mir nicht angehört. Ich hab alte Country-Musik gehört, Merle Haggard zum Beispiel. Der hat wirklich gute Texte. Inception, die Film-Musik. Tron.

Dann hast du bestimmt auch die Nachricht von Ennio Morricones Tod gelesen?

Ja, sehr traurig. Bei meinem dritten Album hab ich angefangen, mich für seine Musik zu begeistern. Eine Ikone.

Zum Abschluss nochmal zurück zum Fußball. Was hältst du von Fußball ohne Zuschauer? Interessierst du dich überhaupt für Fußball?

Mit zunehmendem Alter hab ich Fußball immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt, aber ein paar meiner Freunde haben beruflich mit Fußball zu tun, deswegen ist es schwer, es zu vermeiden. Die Spieler scheinen ja am meisten dagegen zu sein. Ich dachte immer, das wichtigste für sie sei, das Spiel zu gewinnen. Wenn ich auf der Bühne stehe, ist das Konzert immer nur so gut wie das Publikum. Wenn sich die Crowd gut fühlt, fühlst du dich wie ein Rockstar, wenn nicht, kannst du daran auch nicht wirklich was ändern. Dass das auch die Fußballer so ähnlich sehen, hätte ich nicht gedacht, weil die ja hauptsächlich einfach gewinnen wollen. Ich schätze, man bekommt einen Adrenalinschub durch die Zuschauer. Ohne Fangesänge ist Fußball echt super komisch.

Kennst du Scooter? Die haben letztens ein Konzert ganz ohne Zuschauer gegeben. Der Sänger ist rum gehüpft und hat in die Menge gezeigt wie immer, nur dass da niemand war.

Oh, in einer Halle? (lacht) Das ist irre. Ich mag es, wenn es etwas gibt, über das man reden kann und wenn man mit den Fans interagiert. Wir machen eine Drive-In-Tour in ein paar Wochen. Ich blühe auf, wenn es was gibt, über das ich reden kann. Selbstverständlich gibt es viel, über das man reden kann, wenn man 300 Hundert Autos gegenübersteht.

Hoffentlich kannst bald wieder vor echten Menschen spielen und nicht vor Autos. Vielleicht ja sogar hier in Deutschland.

Naja, deutsche Autos sind die besten. Shoutout an Meridian Dan: "See man driving in a German whip". Bei den Tonga-Parties in Berlin war das immer der Höhepunkt: Die Deutschen lieben es, davon zu hören, wie gut ihre Autos sind.

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