laut.de-Kritik
Die "deutsche Antwort auf Nirvana" blickt zurück.
Review von Rinko HeidrichJetzt geht das alles wieder von vorne los. Tocotronic veröffentlichen die zweite Best Of in ihrer fast 30-jährigen Bandkarriere, lässt man die DVD/CD-Kollektion 10th Anniversary außen vor. Die deutschen Indie-Lieblinge nehmen uns an der Hand und gehen mit uns noch einmal den Weg aus dem Proberaum zur deutschen Institution. Ein Geschichte mit alten Bekannten und auch ein paar Überraschungen.
Wie zu erwarten beginnt diese in Hamburg, wo drei Twens Mitte der 90er ein Album veröffentlichten, das die Musikpresse in helle Aufregung versetzte. Wie können solche unschuldig drein blickenden Jungs bereits so früh solche prägnanten und wohlfeilen Texte über Verlorenheit in der Gesellschaft schreiben? Die Journalisten feierten die "deutsche Antwort auf Nirvana" "...für Akademiker-Kinder" frotzelten die Punks. Der Weg zur heutigen Konsens-Band, er war beschwerlich und rau. Die Drums klangen noch blechern, die Gitarren fadeten mit übersteuerten Sound aus und Dirk nölte in "Freiburg" mal mit Verachtung über badische Fahrradfahrer oder mit aufreizender Egal-Stimmung ins Mikro.
Das Lebensgefühl einer Generation, irgendwo zwischen Mittelschichts-Tristesse und gefakten MTV-Emotionen eingesperrt. Die ersten vier Alben bleiben der Kanon einer pathetischen Jugend; auch für sie gilt, was Homer Simpson einmal zu den ähnlich unglücklich-glücklichen Smashing Pumpkins sagte: "Weißt du, meine Kinder denken, du bist der Größte. Und dank deiner düsteren Musik haben sie endlich aufgehört, von einer Zukunft zu träumen, die ich unmöglich bieten kann." Was Homer und auch die Fans nicht wussten: Die Düsternis sollte schon bald verschwinden.
Mit dem weißen Album beginnt der Fokus auf einen leichteren Sound und mehr musikalische Vielfalt. Der Sound ist erwachsener, ein Rock-Soli klingt nicht mehr ironisch und leichte Romantik zieht durch Songs der Berliner Phase. Der Gitarrenhändler verschwindet aus den Lyrics, es treten märchenhafte Erzählungen und Metaphern zu Tage. Eine Phase, die bis heute immer noch spaltet und für den Abgang vieler Hörer von den ehemals wütenden Indie-Tocos sorgt, aber auch viele Hörer hinzu gewinnt. "Du wirst das Licht deines Lebens vor dir sehen ... die Bäume werden von selber grün ... Sag alles ab!".
Parolen gibt es immer noch, wogegen ist dank der Metaphern nicht mehr so klar. 1:1 war wirklich vorbei, stattdessen wundersame Sprachbilder wie "Alles gehört dir / Eine Welt aus Papier / Alles explodiert / Kein Wille triumphiert". Große Träumerei aus dem Berlin der 00er-Jahre, passend zur Aufbruchsstimmung in Friedrichshain und Mitte, wo sich die Jugend zwischen Niedergang und Neuanfang ihre Stadt gerade selber aufbaute.
Wer in den 10er-Jahren auf eine Rückbesinnung hoffte, hatte ein schweres Jahrzehnt vor sich. Noch opulenter, noch dramatischer geht es weiter. "Um mich soll es nach Erdbeeren riechen" aus "Auf dem Pfad der Dämmerung" benötigt schon einiges an Verständnis für den eigenwilligen Toco-Humor. Die Frage, ob die das alles wirklich so meinen, stellt sich auf dem roten Album mehrfach.
Die Indie-Jünglinge sind nun galante Pop-Musiker, und rückschauend kann man sagen: Wir wollten einfach unsere 90er-Jugend weiter ausleben und übersahen die brillante Poesie von "Ich öffne mich" oder "Zucker" mit seinem flamboyanten Sprachbildern über Befreiung und Toleranz. Tocotronic waren schon seit ihrer Gründung gegen Maskulin-Attitüde, mehr Anti-Macho-Rock ging kaum noch. Musik für Rock-Mädchen, Musik für Pop-Jungs und Musik für Alle.
Schon vor "Sag Alles Ab" kam mit "Die Unendlichkeit" die große Rückschau. Die chronologische Darstellung einer Vergangenheit als Außenseiter, von Verlusten und dem immer wieder aufkommenden Motiv der "Erlösung" und "Befreiung". Das neueste Stück "Hoffnung" beschreibt die Gegenwart in einer merkwürdigen Zeit zwischen Angst, dem Überlebenswillen und der Vereinzelung und der Chance auf Erneuerung. Wie war das noch mit "Ich bin alleine und ich weiß es und ich finde es sogar cool?" aus "Freiburg"? In der Mitte ihres Lebens sind Dirk, Jan und Arne keine deutschen Nirvana mehr, sondern die großen Utopisten unserer Generation.
Für Komplettisten hält die vierte CD der Super Deluxe Earbook-Edition noch ein paar Demos Live- Aufnahmen, sowie Liner Notes und rare Fotos bereit. Die kompletten "Live In Roskilde"-Aufnahmen mit Dirks putzigen Englisch-Versuchen ("Srie Steps fromm se ... ei dont know.") wären natürlich das Sahnehäubchen gewesen, aber immerhin bleibt "Ich Möchte irgendwas für dich sein" von dem kultigen Auftritt in Dänemark. Soulstimme von Joy Denalane wirkt bei "Kapitulation" eher unpassend, und dass Monchi von der Punkband Feine Sahne Fischfilet bei "Aber Hier leben" den Refrain mit grölt, beschwört sicher noch einmal die Positionierung gegen rechte Dumpfbacken, aber fällt ohne die Namensnennung in der Tracklist auch nicht weiter auf. So endet die Rückschau auf ein großes Kapitel der deutschen Musikgeschichte mit dem Fazit: "Ich bin ganz schön bedient".
2 Kommentare
Naja, auch ohne Dendemann ist die "Welt aus Papier" Line schon eine ziemlich deutliche Metapher...
Tocotronic waren 1993 schon durchweg über 20 und die Zeile "Eins zu Eins ist jetzt vorbei!" des Songs "Neues vom Trickser" stammt vom Weißen Album, nicht von "KOOK". So viel Liebe zur Wahrheit sollte schon sein. Gerade bei dieser großen Band mit einer wirklich fantastischen Frühphase.