laut.de-Kritik

Neue Deutsche Kälte.

Review von

Die 80er Jahre waren ein Phänomen in sich und wurden wie selten ein Jahrzehnt in seiner Ästhetik kopiert, imitiert und wieder aufgelegt. Spätestens seit "Stranger Things" auf Netflix mit Mode, Geisteshaltung und Klischees der 80er Jahre kokettiert und auch die Popmusik von damals glorifizierend ins Szenenbild integriert, ist das Jahrzehnt mal wieder en vogue.

So verwundert es nicht, wenn die Macher der Hamburger Synthiepop-Partyreihe "Damaged Goods" in Zusammenarbeit mit dem Retro-Label Bureau B poparchäologische Ausgrabungen im Umfeld deutscher Post-Punk- und New Wave-Acts durchführten und die gehobenen Schätze von damals auf einem Sampler veröffentlichen. Da finden sich mit "Blaue Matrosen" homoromantische Seemannslieder, deren Harmonie-Anleihen beim Kraftwerk'schen "Model" kaum zu leugnen sind. Die beschleunigte Pogo-Gitarre ist jedoch strictly Post-Punk und saugt ihre Lebensgeister direkt aus dem Rock'n'Roll der 50er Jahre.

Das klingt so frisch, als wäre es gerade entstanden und stimmt wehmütig, denn dieser Song hätte damals Potenzial für die ZDF-Hitparade gehabt, wäre da nicht dieser halbschlüpfrige Text, der damals möglicherweise noch unter § 175 StGB strafbar gewesen wäre. Oft waren die Texte bei NDW-artigen Schlagern aber eher minimalistisch bis Dada gehalten, oft auch ohne erkennbare Sinnhaftigkeit. Nicht so bei Silberstreif mit "Bei dir ist noch Licht", das die Besessenheiten eines pubertierenden Voyeurs offenbart, der seiner Angebeteten bis ins heimische Jugendzimmer nachstellt. Das mag zwar musikalisch belanglos sein, doch mit dem catchy Keyboard-Refrain gelingt hier ein tanzbarer Clubhit, der hinter seiner unschuldigen Fassade damals auch als Radiohit funktioniert hätte.

Die helvetische Herkunft des Trios (sic!) El Deux ist unverkennbar, wenn sie mit leicht schweizerdeutschem Akzent das "Computermädchen" aus dem ROM-Speicher eines 8-Bit-Computers herbeisehnen. Auch wenn man einen gedanklichen Vorgriff auf Einrichtungen der Gegenwart wie Parship oder Tinder vermuten möchte, handelt es sich doch mehr um den feuchten Traum eines C64-Nerds der 80er Jahre, sich eine Lebenspartnerin aus Bits und Bytes zu erschaffen. Damit reiht sich dieser Song in einen pokulturellen Kanon ein, der mit John Hughes Zelluloidversion "L.I.S.A. - Der helle Wahnsinn" seinen damaligen Höhepunkt fand.

Lyrische Geistlosigkeit kann man Nullzeit mit "Dein ganzes Leben" nicht vorwerfen. Das von einem treibenden Sequenzerbass getragene Stück offenbart die Obsessionen eine durchgeknallten Mädchenmörders. Es reicht bis hin zum stöhnenden Klimax, der in seiner dramaturgischen Ambivalenz für damalige Popmusik einzigartig ist und offen lässt, ob diese Geräuschkulisse aus Lust oder Schmerz entstanden ist. Die verträumten Synthieharmonien irgendwo zwischen Hubert Kah und Andreas Dorau verhüllen dabei geschickt, dass es sich hier nicht um ein Liebeslied, sondern um eine dunkle Mordfantasie handelt.

Der Underground-Sound von damals konnte sich dem Zeitgeist nicht verschließen, im Gegenteil. Der Berlin Express beschwört mit einer nach Wochenschau klingenden Stimme den Fliegeralarm herbei und konstatiert: "Die Russen kommen". Klar, Deutschland war damals noch geteilt und die NVA stand direkt hinter der Mauer zusammen mit der Roten Armee. So gefiel die schaurige Vision im Industrial-Rhythmus, demnächst von den bösen Sowjets überrannt zu werden. Neue Deutsche Kälte. Technologiehörig und angsteinflößend.

Die unterschwellige Dauerbedrohung durch atomares Wettrüsten auch auf deutschem Boden gipfelte in Endzeit-Clubhits wie New Dimensions "Stuttgart Schwarz". Obwohl im Refrain Stuttgart noch brennt und die gesamte Bevölkerung wie in einem Sirenenalarm mit düsterem Sequenzerrhythmus unterlegt im damals angesagten New Wave-Club "Odeon" zum allerletzten Tanz gerufen wird, erscheint dieser Song wie der Auftakt zu einer surrealen Zombie-Apokalypse. Man fühlt sich zurückversetzt in eine Zeit, wo im Strobolicht toupierte Schwarzkittel mit kajalverschmierten Augenlidern im Gothic-Twostep um ein imaginäres Ziel im Zentrum einer Tanzfläche stapfen.

"Sowas Von Egal" ist eine unkonventionelle Werkschau auf verwelkte Blüten der deutschen Popkultur, die einer bunten Zeit entsprungen und zutiefst vom technologischen Fortschritt geprägt worden sind. Was die Macher hier zu Tage fördern, ist ein geniales Abbild des damaligen Undergrounds und zeichnet ein schräges Bild des vorherrschenden Zeitgeists jener Ära. Eine streng kuratierte Renaissance von Connaisseuren der Szene, die vielleicht in der Tradition von Jürgen Teipels Buch "Verschwende Deine Jugend" zum letzten Mal zelebriert wurde und die hier ihre konsequente Fortsetzung findet.

Trackliste

  1. 1. Träneninvasion – Sentimental
  2. 2. Der Moderne Man - Blaue Matrosen
  3. 3. Silberstreif - Bei Dir Ist Noch Licht
  4. 4. El Deux – Computermädchen
  5. 5. Nullzeit - Dein Ganzes Leben
  6. 6. Hoffnung & Psyche - Sie Bleibt kalt
  7. 7. Schwellköper - Liebe, Triebe, Diebe
  8. 8. New Dimension - Stuttgart Schwarz
  9. 9. Berlin Express – Die Russen Kommen
  10. 10. Pension Stammheim - US-Invasion
  11. 11. Alu - Bitte Warten Sie
  12. 12. Matthias Schuster - Für Alles Auf Der Welt
  13. 13. Gorilla Aktiv – Spiegelbild
  14. 14. 08/15 - 1000 Gelbe Tennisbälle

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