laut.de-Kritik

Der Zug ist abgefahren.

Review von

Wenn das zehnte Angelika Express-Studioalbum eine Sache zweifelsohne erzeugt, dann ist es ein moralischer Zwiespalt: Finde ich die musikalische Umsetzung auf "Positiver Stress" schrecklich? Definitiv. Jedoch zielt die Scheibe wohl weniger auf ein Publikum unter 25 ab, sondern eher auf Angelika-Fans der ersten Stunde. Finde ich wiederum auch die Intention des Albums schrecklich? Definitiv nicht, da die Kölner Indie-Pop-Punks mit ihrem hyperenergetischen Enthusiasmus ein positives Zeichen in diese von der Pandemie gezeichnete Gesellschaft setzen.

Somit beginnt die innere Zerrissenheit schon bei "Bringdienst". Als Hommage an die unzähligen schlechtbezahlten und oftmals wenig wertgeschätzten Paketboten, die täglich für ein funktionierendes Postsystem sorgen, ist der Song zwar in seinem Kern eine herzliche und respektvolle Botschaft an die unscheinbaren Helden des Alltags. Die Form ist jedoch kaum auszuhalten, allem voran der ohrenbetäubende Gesang.

Auch "Kotzbrocken" sendet eine nette Nachricht: "Durch dich habe ich gelernt mich auf gar nichts zu verlassen / Wegen dir hab ich erkannt das bringt nichts mit dem Hassen." Abermals scheitert es jedoch an der Produktion und musikalischen Kreativität. Nicht zum ersten Mal folgen uninspirierte Gitarrenparts auf einen Basic-Drumbeat und eine diesmal wiederum wenig mitreißende Gesangseinlage. Wohingegen der Musikaspekt zuvor noch schlichtweg schwer zu verdauen war, untermalt er in diesem Fall eine nette Geschichte mit gähnender Langeweile.

Ein Songtitel wie "1979" könnte im ersten Moment wiederum alles bedeuten und könnte sich in alle möglichen spannenden Richtungen entwickeln: ein Geburtsdatum, das Jahr eines schönen oder traurigen Ereignisses, Möglichkeiten wären da. Aber nein, der Track erzählt, wie es ist, ein Song zu sein: "Ich hab geträumt ich bin ein Song / Paar Akkorde Singalong / Mein Text ist ernst und trotzdem witzig / Copyright 1979." Oh Mann. Es ist eine Sache, zu versuchen, möglichst smart und lustig zu sein. Die Umsetzung ist eine andere. Und nein, man ist nicht automatisch witzig, nur weil die eigenen Lyrics das behaupten.

Dasselbe gilt für das in Caps-Lock geschriebene "SHIFTTASTE KLEMMT". Ist das originell oder cringe? Kommt wohl darauf an, mit wem man sich darüber unterhält. Sarah und Luca aus dem Studentenwohnheim dürften hier kaum zur selben Auffassung kommen wie Onkel Heinz-Dieter und Tante Sabine. Als alles schon gegessen zu sein scheint, kommt "Immunsystem" wie aus dem Nichts. Schönes Instrumental, hörbarer Gesang und diesmal sogar ein wirklich einfallsreicher Text. Bitte mehr davon! Aber dem ist leider nicht so. Der Liebessong an die Gesundheit bleibt das einzige Highlight auf einer Platte, die ansonsten an allen Ecken und Enden Spannung vermissen lässt.

Die guten Absichten, die sich hinter den meisten Songs auf "Positiver Stress" verbergen, bieten definitiv eine erfrischende Sicht auf das Leben, auch wenn Darbietung und Aufmachung jüngere Altersgruppen kalt lassen dürften. Dennoch sorgen Angelika Express in Zeiten von weitverbreiteter Einsamkeit und gesellschaftlichen Schwierigkeiten für einen kleinen Lichtblick. Der optimistische Enthusiasmus und die gut gemeinte Aggression des kölschen Energiebündels macht einem daher schon fast ein schlechtes Gewissen, den musikalischen Aspekt nicht zu mögen.

Trackliste

  1. 1. Luxuskommunismus
  2. 2. Bringdienst
  3. 3. 1979
  4. 4. DEINE GREATEST HITS
  5. 5. Positiver Stress - Extra Crunchy Vorab-Frühlingsmix
  6. 6. Immunsystem
  7. 7. Hartes Glück
  8. 8. Fröhliche Rebellin
  9. 9. Aliens United
  10. 10. SHIFTTASTE KLEMMT
  11. 11. Kotzbrocken
  12. 12. Nochmal Ganz Von Vorn

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Angelika Express

Angelika Express, das sind die längste Zeit Sänger und Gitarrist Robert Drakogiannakis, Schlagzeuger Alex Jezdinsky und Jens Bachmann am Bass gewesen.

1 Kommentar mit einer Antwort

  • Vor 3 Jahren

    Oh je... Gerade den Absatz mit "1979" hab ich hart gefühlt.

    Anno 2021 gestehe ich dem Billy Corgan echt kaum irgendetwas zu, aber schon noch, dass er eben auch hinsichtlich Songwriting und Melodieführung mit seinem "1979" einen der absolut großartigsten Würfe für die Pumpkins, eigentlich aber auch endlich mal weit darüber hinaus, landete.
    Ich meine, lyrisch ist er innerhalb seines "simplified English"-Sprachkreises auch hier wieder mühelos nahe an dem, was dort schon als milde poetisch eingestuft wird, aber es ist ein Song, der beim hören einfach immer wieder die quäkige Stimme seines Schreibers vergessen lässt und selbst in 2021 sogar manchmal, dass es das Ego des Schreibers auch bis heute kaum zulassen kann, dass die allerbesten Songs aus seiner Feder auch mal von geeigneteren Stimmen intoniert werden als der von Billy aus dem nahegelegenen dörflichen Froschteich.