23. April 2024

"Die Antworten von ChatGPT waren alle falsch"

Interview geführt von

Die besten Gespräche sind, wenn der Interviewpartner wie aus der Pistole geschossen zu jedem Stichwort etwas sagen kann. Bernd Begemann war an diesem Nachmittag auf jeden Fall in einem sehr guten Unterhaltungsmodus.

Nicht nur wenn Bernd Begemann nebenbei Zitate von Oscar Wilde einwirft kommt sein wirklich riesiges Spektrum an Wissen und Interesse zum Vorschein. Wir sprachen über sehr viele politische Themen, aktuelle Krisen, die man einfach nicht ausblenden kann. Über Fantum, das neue Beyoncé-Album und berührende Momente in der Robbie Williams-Doku. Sein neues Album "Milieu", das er mal wieder mit seiner Band Die Befreiung aufgenommen hat, ist am Freitag erschienen.

Hast du heute schon unangenehme Nachrichten bekommen?

Mein neues Album beginnt mit den schlechten Nachrichten. "Es Hat einen Vorfall Gegeben" ist der erste Track. Das ist für mich die einzige Nachricht, die es gibt und die überhaupt noch nicht durchgedrungen ist. Wir sind nicht in Sicherheit, bloß weil wir es uns so gut eingerichtet haben in unserer Rolle als Zuschauer. Wir sind nicht in Sicherheit, weil wir Zuschauer sind. Das ist die einzige Nachricht und die ist noch nicht so richtig durchgesickert.

Eigentlich wollte ich gar nicht so negativ starten, aber ist im Moment halt die Realität. Gerade kam auch die Nachricht, dass es einen offenen Brief von Musikern gibt, gegen die Verwendung von KI in der Musikindustrie. Billie Eilish, Robert Smith und andere haben unterschrieben. Hast du damit schon gearbeitet?

Nach langem Hin und Her habe ich ChatGPT ein paar Sachen gefragt und die Antworten waren alle falsch. Keine richtige Antwort, aber es ist vorbei. KI hat schon gewonnen. Auf BBC habe ich gerade eine Doku gesehen über die KI-Job-Apokalypse. Es könnte acht Millionen Plätze in Großbritannien kosten in den nächsten fünf Jahren. Das widme ich auch dem zweiten Lied meines Albums "Hallo Bett". Da geht es um die Rechte der Nutzlosen. Auch eine schöne Gelegenheit um Oscar Wildes Zukunftsvisionen zu verwirklichen, der da sagte: In der Zukunft werden Maschinen oft schmutzige und langweilige Dinge tun und wir werden uns mit schönen Dingen beschäftigen. Das ist eine stärkere Zukunftsvision als "Hey, alles wird von Arbeiter- und Bauernräten entschieden". Letzten Endes entscheidet nur der große Vorsitzende. Eine schöne Vorstellung, dass Maschinen sich um den Dreck kümmern und wir uns nur um das Schöne, aber natürlich wird es nicht so werden. Es wird Leute geben, die sich nutzlos fühlen und mein Song sagt ihnen: Es ist ok, nutzlos zu sein, selbst die Leute, die sich für supernützlich halten. Seid jetzt einfach mal nett und sagt Hallo zum Nachbarn.

Und sich mehr Zeit nehmen für Patricia Dombrowski, die ich nicht googlen konnte und auch auf deinem Album "Milieu" eine Rolle spielt.

Das ist ein erfundener Name. Aber ein bisschen inspiriert von dieser verstörten Überlebenden aus "Twin Peaks", die hieß Ronette Pulaski. Das ist eine Mischung von einem Vornamen, der so wahnsinnig bedeutsam, so hoch herrschaftlich ist. Und der Nachname deutet dann eher auf Arbeiterklasse hin. Das ist ein reizender Kontrast.

Und klingt auch im Song sehr gut, der Name Patricia Dombrowski.

Das fand ich auch. Ich habe das auch schon ein paar Mal live gesungen. Singt sich gut weg.

Die neuen Songs hast du auch schon live gesungen?

Ich schreibe sie, um sie am selben Abend singen zu können. Ich schreibe sie auch nicht für das Textheft. Am besten ist es, wenn man ein Lied zum ersten Mal hört und es sofort versteht und sogar ergriffen oder angerührt wird und damit einen Effekt erzielt. Das ist sehr schön. Wenn man Lieder tausend Mal hört, und Lieblingslieder hört man mindestens tausend Mal, dann bekommen sie eine andere Qualität und Wahrheit. Lieder sind auch Beschwörungen. Der Typ in diesem Lied beschwört Patricia Dombrowski. In seinem Leben gibt es kein Drumherumkommen. Er muss mit Patricia Dombrwoski in seinem Leben klarkommen. Mich amüsiert sowas.

Und welchen Song hörst du aktuell ganz oft?

Meinst du meine eigenen oder andere Songs?

Nee, hörst du deine eigenen auch? (beide lachen)

Ja.

Das hört man auch eher selten.

Ich schreibe sie ja und mache sie, damit es sie gibt. Ich schreibe oft über Sachen, über die niemand schreibt und das ist eine Sache, die Leuten nicht klar ist. Ich versuche Genres zu erfinden, bestehende Genres zu erweitern, weil ... Das Album hat eine kleine Struktur, es ist ein verstecktes Konzeptalbum, wie viele meiner Alben. Ich dränge es Leuten nicht auf, aber da ist ein innerer Zusammenhang zwischen den Liedern.

Das erste Stück "Es Hat Einen Vorfall Gegeben" ist so ein Blick in die Außenwelt, der ziemlich düster ist. "Hallo Bett" ist dann die individuelle Reaktion darauf, und der Sänger, also der Protagonist, richtet sich an seine Mitmenschen. Romantisch, er möchte eine Verbindung. Das wird erforscht in der Mitte des Albums und das geht auch nicht gut aus. Und dann sind wir wieder bei einem meiner Lieblingsthemen, nämlich Kritik und Feiern von bürgerlichen Lebensentwürfen, wenn du so willst. Und der Endpunkt davon ist ein Lied namens "Die Kleinen Dinge", wo der Protagonist zu Tode betrübt ist, dass seine Partnerin oder sein Partner, egal mit wem man da lebt, nicht bemerkt, dass er sich Mühe im Haushalt gibt und Duschköpfe repariert und dass das einfach nicht gewürdigt wird. Das macht ihn gar nicht mal wütend, das ist niederdrückend und es geht nicht weiter an dem Punkt. Deshalb wenden wir uns der Außenwelt wieder zu, und das Album endet dann mit der Geschichte, wie ich bescheiden wurde. "Die Vielen Anderen" heißt das Lied.

Das ist ein Gefühl, dass ich tatsächlich habe und niemand schreibt darüber. Niemand schreibt über die vielen anderen Leute. Sie schreiben vielleicht darüber, dass es sie stresst. Als du und ich angefangen haben Musik zu hören. Ich natürlich noch viel eher als du. Ich bin tierisch alt, da gab es nicht so viel Musik und jetzt gibt es jeden Tag 200.000 neue Songs, die wir uns gar nicht anhören können. Als ich Teenager war, hatte ich das Gefühl, ich werde erstickt in Schweigen, in Nicht-Ereignissen. Heute muss man das Gefühl haben, erstickt zu werden in Geräuschen, in Pseudo-Ereignissen. Und sich da durchzuhören ist Arbeit.

"Corona war eine Riesenzäsur"

Und was meinst du genau damit, dass du bescheidener geworden bist?Deine Songs erzählen die traurigen Momente, aber dennoch haben sie durchaus was Bejahendes und man sitzt nicht da und muss die ganze Zeit heulen.

Das ist ja auch das sinnloseste. So verschwenden manche auch ihre Zeit. Man kann über die ernsten Dinge sprechen, über die Ausweglosigkeit einer Existenz sinnieren, aber das kann man auch fröhlich. So wie am Anfang von "Moby Dick". Ich weiß nicht, was da auf mich zukommt, aber ich werde ihm lachend begegnen. Das ist doch die einzige Art damit umzugehen. Ich wüsste nicht, wie man das sonst durchstehen sollte, außer: Oh, ich bin ein weißer Mitteleuropäer. Ich habe einen vollen Kühlschrank und ich werde physisch nicht bedroht, aber ich bin trotzdem so traurig. Klar, so kann man sich fühlen, aber das kann man doch nicht verherrlichen.

Es gibt sicherlich Leute, die haben einen guten Grund, aber dieses Gejammer, wie scheiße alles hier ist und man darf ja nichts, verstehe ich auch nicht. Da fragt man sich, ob diese Leute mal in einem anderen Land gelebt oder zumindest unterwegs waren.

Jedes Land auf der Welt hat seine Vor- und Nachteile. Nehmen wir mal Portugal, die hatten eine gute Zeit. Es war progressiv und es gibt auch gutes Essen, aber jetzt findet da auch ein reaktionärer, super rassistischer Backlash in der Politik statt. Es ist nicht immer alles super. Viele sagen: "Boah, ich sollte da oder dahin", aber wenn man hier nicht glücklich sein kann, dann wird man woanders bestimmt eine Menge anderer interessanter Probleme bekommen, die man hier nicht auf dem Zettel hatte. Leute, die in die USA ausgewandert und jetzt überrascht sind: "Oh, meine Frau und ich haben ein Kind bekommen und nur die Geburt im Krankenhaus kostet 25.000 Dollar." Ich möchte nicht leben in einem Land, das seine Geisteskranken einfach so auf die Straße wirft. Das ist ein furchtbares Land.

Deutschland übertreibt es vielleicht mal hier mal da, zum Beispiel, wenn du ein verletztes Wildtier siehst, dann kannst du eine Behörde anrufen. Die schicken dort jemanden hin und die pflegen dieses Wildtier gesund. Oder kannst du dich an den Film "Systemsprenger" (deutsches Filmdrama von 2019 mit Helena Zengel und Albrecht Schuch) erinnern? Über dieses Mädchen, was sich einfach nicht integrieren lässt. Die Regisseurin Nora Fingscheidt hat erzählt, dass ganz viele ausländische ZuschauerInnen gesagt hätten: Ach, ihr kümmert euch um solche Menschen? Bei uns werden sie zu Straßenkindern, dann sind sie kriminell und mit siebzehn tot. Und wir haben in Deutschland zig Behörden.

Es heißt ja immer, die Deutschen seien so kaltherzig, ja, aber wir kümmern uns um die hoffnungslosen Fälle. Die Leute in Südamerika sind sicherlich warmherzig, aber sie schmeißen die hoffnungslosen Fälle auf den Misthaufen. Ich komme auf jeden Fall hier besser zurecht, weil ich das gewohnt bin. Ich schätze, man kann in den meisten Ländern glücklich sein, aber was die Krankenversorgung angeht ... Mir tun die Engländer so leid. Ich bin so aufgebracht, weil die britische Kultur mir so viel bedeutet. Die Literatur, Virgina Woolf, Oscar Wilde. Die Popmusik natürlich. Als ich angefangen habe, Popmusik zu hören, in den 1970er Jahren, habe ich auch "Weltspiegel" gesehen. Da gab es Reportagen darüber, wie in Großbritannien am Tag alle drei Stunden der Strom abgestellt wurde, weil es keinen gab. Die machen die tollste Musik der Welt, aber hatten keinen Strom.

Zum Thema Auswandern. Viele sind ja auch aufs Land gezogen oder wollen da immer noch hin. Hier im Osten ist das Umland ja ganz schön. Brandenburg, Uckermark ...

Wenn du keine Nazis als Nachbarn hast ... Da muss ich noch mal Oscar Wilde zitieren, weil der immer so passende Einsichten hatte. Er sagte: "Wer aufs Land zieht, verliert zuerst sein Geld, dann seine Freunde und dann seinen Verstand." Stell dir vor, du denkst, ja wir beide ziehen aufs Land, so romantisch mit unserem Hund und unserem Kind. Irgendwann dann: Was machst du denn so lange auf dem Dachboden, Schatz? (verstellt die Stimme) "Ich weiß nicht, ich will nur für mich mal kurz nachdenken" ... Das ist doch der Anfang einer Stephen-King-Geschichte.

Und wenn du alt bist, dann haste keinen Arzt in der Nähe.

Genau, kein Krankenhaus. Ich persönlich brauche immer eine gute Kinoleinwand in der Nähe mit einer guten Programmauswahl. Und ich liebe es, Plakate von neuen Musikacts zu sehen, die in meiner Nachbarschaft spielen. Dann einfach mit dem Fahrrad zehn Minuten abends hinfahren und den neuen Hype-Act sehen, was für ein Luxus.

Und keine AfD-Plakate auf Augenhöhe. Bist du eigentlich viel in den sozialen Medien unterwegs?

Ich bin nur in den sozialen Medien, um meine Argumente zu prüfen. Meine Haltung ist immer: Vielleicht weißt du was, was ich nicht weiß.

Und spätestens mit der Pandemie ploppten sehr viele Experten und Virologen auf.

Corona war eine Riesenzäsur. Da war man doch überrascht, wer auf einmal irre ist. So eine gepflegte Erscheinung und macht tolle Kunst, aber ist komplett irre. Ich respektiere das. Leute dürfen das. Jeder ist in irgendeinem Punkt irre oder irrational und das brauchen wir auch, aber im öffentlichen Raum, wenn es um Leben und Tod geht, ist das eine andere Sache.

Und mit dem Angriff auf die Ukraine und dem Konflikt in Nahost sind die irren Experten gar nicht mehr zu stoppen. Wenn man das mal so salopp sagen kann. Auf jeden Fall sind wir alle überfordert damit, oder?

Das ist eben mein Punkt. Wir hatten jetzt 30 wundervolle Jahre, wo wir sagen konnten, dass wir Zuschauer der Weltgeschichte sind. Es passieren schlimme Sachen - auf der südlichen Halbkugel. Jetzt ist es schwer für uns, aus unserem angenehmen friedlichen Zustand rauszukommen. Wir sind es nicht gewohnt, echte Bedrohungen zu ertragen, deshalb haben wir Scheinbedrohungen erfunden: Ich brauche unbedingt mehr Ballaststoffe in meiner Diät, sonst bringt mein Brot mich um oder sowas. Diese künstlichen Bedrohungen waren noch angenehm und das ist jetzt nicht mehr so.

Die Kriege und Krisen wurden auch bei den diesjährigen Oscars thematisiert. Du als Filmliebhaber verfolgst das auch?

Ich fand es sehr unglücklich, dass viele Stars zwei blutverschmierte Hände als Anstecknadeln trugen. Auch Billie Eilish, die Ex-Heldin meiner Tochter, erklärte: "Wir wollen mit unseren blutigen Händen ausdrücken, dass wir für Frieden sind." Vielleicht weiß sie es nicht besser, denke ich mir, aber du kannst es sofort rausfinden, wofür diese Hände stehen. Nämlich für das Lynchmassaker in Ramallah im Jahr 2000, als zwei Israelis bei einer nächtlichen Wanderung aus Versehen auf das Gazagebiet gekommen sind. Sie wurden auf einer Polizeistation festgehalten und dann gelyncht von hunderten Palästinensern. Die haben den beiden die Eingeweide rausgerissen mit bloßen Händen und ihre blutigen Hände dann am Fenster gezeigt. Berühmtes Foto aus dem Jahr 2000. Dafür stehen diese Hände. Für diese absolute Barbarei. Und Billie Eilish glaubt, das stehe für Frieden.

"Wenn es jemals einen ausbeutenden Popstar gab, dann Beyonce"

KünstlerInnen und ihre politischen Aussagen, das ist ein Thema für sich. Man muss sich ständig fragen: Kann ich die Musik noch hören, wenn sich XY so oder so äußert? Wie gehst du als Fan damit um?

Wegen meiner Punkrock-Sozialisation haben wir uns antrainiert, keine blind verehrenden Fans zu sein. Deshalb sehe ich mit Befremdung so einen Hang zum Monarchismus. Man sagt nicht mehr Beyoncé, sondern Queen B. Sie kann gar nichts falsch machen. Nein? Kann sie nicht? Ich fand ihr letztes Album ziemlich platt und einfach uninteressant. Jetzt kommen alle aus ihren Löchern, Leute, die Jahrzehnte keinen Country gehört haben, an denen die wundervolle Countrymusik von Alison Krauss und Brad Paisley vorbeigegangen ist. Die wollen mir jetzt Country erklären, weil Beyoncé sie jetzt zum Licht geführt und sich herabgelassen hat, ein Country-Album zu machen. Mit ihrem Stab von mindestens einem Dutzend SongschreiberInnen, die sie unterbezahlt. Die Verschwiegenheitsklauseln unterschreiben müssen.

Die Art, wie viele dieser Superstars ihre Songschreiber ausbeuten, ist furchtbar. Beyoncé noch mehr als Taylor Swift. Ich kann sie nicht verehren. Sie ist in Songschreiberkreisen bekannt dafür. Wenn es jemals einen ausbeutenden Popstar gab, dann ist sie das. Über sie ist die Redewendung "Change a word, get a third" geprägt worden, das heißt, sie hat einen Song präsentiert bekommen und ändert ein Wort, damit sie ein Drittel oder sogar die Hälfte der Tantiemen bekommt. Und die AutorInnen können nichts dagegen tun, weil es immer noch besser ist, die Hälfte der Tantiemen zu bekommen, als den Song auf einem Indielabel rauszubringen. Ich kann mit dieser Verehrung nichts anfangen.

Ich höre manchmal einen Track und bin froh, wenn mich das anregt. Völlig obskure Bands, die vielleicht nicht bedeutungsvoll sind und die Musik nicht das originellste, aber an dem Vormittag hellt es meine Stimmung auf. Gerade der letzte Track von so einer australischen Proll-Punkband namens Drunk Mums, die haben einen Song namens "New Australia" und der hat mich so glücklich gemacht. Wie kann man im neuen Australien Spaß haben, wenn der Bierkiosk schon um halb zehn schließt? Finde ich eine berechtigte Frage und interessiert mich mehr als das, was Beyoncé auf ihrem neuen Album zu sagen hat.

Hast du die Netflix-Doku über Robbie Williams gesehen? Da musste ich bei deinem Song "Hallo Bett" dran denken. Mir war nicht bewusst, dass Robbie sehr viel Zeit im Bett verbringt, und das fand ich schon sehr traurig. Er ist schon ein geschundenes Kind.

Ein geschundenes Kind und eine ehrliche Haut. Er ist auch ein offenes Buch. Ich fand es wirklich hart zu gucken, diese eine Szene, die er selber nicht gucken wollte. Ich glaube, das war vor seinem großen Auftritt in Knebworth. Dieses riesige Open-Air-Konzert, er hat diesen schicken Schal an und das seidige Outfit, aber er ist völlig verschwitzt. Wahrscheinlich von multitoxischem Drogenmissbrauch und dem Druck, dass hunderttausend Leute ihn sehen wollen und er möchte ihnen am liebsten nicht vor die Augen treten. Für mich war das einer der größten Streaming-Augenblicke im letzten Jahr. Kein Shakespeare-Drama ist so bewegend und abgrundtief existenziell düster.

Dennoch bin ich kein Fan in diesem Sinne. Ich vergöttere niemanden. Ich gehe bei allen Menschen davon aus, dass sie komische Sachen machen, wenn ich nicht hingucke, aber ich genieße, wenn irgendwas passiert und mir einen Kick gibt und das passiert zum Glück immer noch.

Und wie sind deine Fans? Gab es da mal komische Momente?

Meistens habe ich tolle Fans. Die pittoreskeste Sache war mal, dass ein Typ gewartet hat an so einer Schlange, wo ich Autogramme gegeben und CDs verkauft habe. Manche Leute halten sich dann so in Entfernung zu dieser Schlange und gucken mich an wie ein Falke kurz bevor er sich auf die Maus stürzt. Ich merke dann schon, okay, es wird schrecklich. Dann war die Schlange weg und dieser Typ kam auf mich zu und sagte (verstellt die Stimme ganz tief): "Dein Lied "Der Brennende Junge", vier Stockwerke tief. Woher wusstest du, dass mein Bruder sich umgebracht hat?" Und ich so: "Oh, nein. Ich meine das poetisch. Ich meine das eher wie so ein Bild." (Wieder mit tiefer Stimme): "Mein Bruder ist nämlich tot. Er hat sich umgebracht. Er hat sich aus dem 4. Stockwerk gestürzt und es ist unten auf dem Bürgersteig schmerzhaft gestorben, nach drei Minuten." Und ich so: "Das ist eine schlimme Geschichte, aber das ist es nicht, was ich mit meinem Song meine ..." So etwas passiert zum Glück nur sehr selten. Ich schätze, wenn du Death Metal oder sowas machst, dann passiert dir das öfter.

Du bist auch bald wieder live unterwegs. Dein Song-Repertoire ist gigantisch. Du hast nicht nur 100 eigene Songs, sondern singst ja auch gerne andere Lieder. Ich frage mich immer, wie man sich die ganzen Texte merken kann. Da nenne ich auch gerne Sleaford Mods, deren Songs auch sehr textlastig sind.

Ich habe die nicht auswendig gelernt wie ein Schauspieler seinen Text, gute Lieder erklären sich von selbst. Gute Lieder haben ihren eigenen unaufhaltsamen Gang, kommt mir jedenfalls so vor. Sleaford Mods, tut mir leid, dass ich da den peinlichen Satz sagen muss, aber: Da mochte ich die früheren Sachen mehr. Sorry, aber das ist so wie bei den meisten Hip Hop-Acts: Die haben ein Gefühl, eine Grundhaltung. Das ist eine angepisste, klassenbewusste Aggression. Das habe ich nach vier Stunden verstanden, da brauche ich nicht noch mehr. Ich brauche mehr Drama und möchte mehr fühlen als "Ah, der kleine Mann wird verarscht" oder so. Ich gönne ihnen den Erfolg. Selbst Ed Sheeran. Ich kann ihn nicht hassen oder möchte ihn auch nicht abschaffen.

Wenn du in die Zukunft blicken könntest. Wie sieht es hier in zehn Jahren aus?

Ich bin komplett anti-esoterisch, deshalb bin ich auch gegen Hellseherei. Ich hoffe auf jeden Fall, dass Putin in zehn Jahren nichts mehr zu sagen hat. Ich hoffe, dass Russland als Aggressor wegfällt. Ich hoffe, dass Europa seinen Scheiß zusammenbekommt. Es hängt alles davon ab, ob Trump Präsident wird oder nicht. Ich hoffe, Europa bleibt demokratisch.

Vielen Dank, Bernd.

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