laut.de-Kritik
Grandiose Jubiläumsausgabe zu Woody Guthries 100. Geburtstag.
Review von Giuliano BenassiHätte Bob Dylan an einem grauen Wintertag Anfang der 60er Jahre nicht zum falschen Zeitpunkt angeklopft, wäre aus dem vorliegenden Album womöglich nichts geworden: "Hinter einem Feld sah ich eine Häuserreihe, so wie Woody sie beschrieben hatte. Ich lief los und stellte bald fest, dass ich durch einen Sumpf watete. Ich versank bis zu den Knien im Wasser, lief aber weiter in Richtung der Lichter. Als ich rauskam, waren meine Hosen knieabwärts klatschnass und festgefroren, meine Füße taub. Ich fand das Haus und klopfte an der Tür. Eine Babysitterin öffnete und meinte, dass Woodys Frau Margie nicht da sei.
Sein Sohn Arlo, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, sagte ihr, sie solle mich reinlassen. Er hatte aber keine Ahnung von irgendwelchen Manuskripten, die im Keller weggeschlossen sein sollten. Ich wollte nicht lästig sein, also bleib ich nur kurz, bis ich mich aufgewärmt hatte, verabschiedete mich und watete durch den Sumpf zurück zur U-Bahn", erinnert sich Dylan in seinen "Chronicles, Vol 1".
Bei einem seiner zahlreichen Besuche bei Woody Guthrie, der mittellos und von der Welt vergessen in einer Nervenheilanstalt in New Jersey auf den Tod wartete, hatte Dylan erfahren, dass er unzählige Texte im Haus seiner Familie in Coney Island hortete, die noch keine Melodie hatten. Er könne sie haben, er müsse sie nur abholen. Für den jungen, noch unbekannten Dylan so etwas wie der Ritterschlag seitens seines großen musikalischen Vorbildes. Aber doch nicht wichtig genug, um den Besuch zu wiederholen.
"Vierzig Jahre später fielen die Texte in die Hände von Billy Bragg und der Band Wilco, die sie vertonten, zum Leben erweckten und aufnahmen. Das geschah unter der Regie von Woodys Tochter Nora. Diese Künstler waren wahrscheinlich noch nicht mal auf der Welt, als ich jenen Trip unternahm", schließt Dylan die Anekdote ab. Ob er das Projekt gut fand oder nicht, lässt sich nicht unmittelbar feststellen. Doch dass es überhaupt Erwähnung findet, dürfte Lob genug sein.
Denn Lob haben Billy Bragg und Wilco zweifellos verdient. Wie auch Nora Guthrie, die auf die Idee kam, dem walisischen Gewerkschaftsbarden die schwierige Aufgabe ans Herz zu legen. Bragg besuchte Guthries Geburtsort Okemah in Oklahoma und versuchte, dessen bewegtes Leben nachzuvollziehen. Bestückt mit verschiedenen Gitarren, bastelte er sich Melodien zurecht, die den Texten entsprachen, die er sich ausgesucht hatte.
Wesentlich schwieriger war es dagegen für Wilco, die im Gegensatz zu Guthrie eine Band mit mehreren Mitgliedern sind und dazu noch einen gänzlich anderen Zugang zu Musik haben. Politische Themen spielen in ihrem Werk jedenfalls eine eher nebensächliche Rolle.
Die Gefahr, brutal auf die Fresse zu fallen, war also hoch. Doch das Experiment gelang. Der Zahn der Zeit hat am 1998 veröffentlichten "Mermaid Avenue" nicht genagt und beweist, dass so unterschiedliche Künstler wie Bragg und Wilco durchaus harmonieren können, wenn sie ein gemeinsames Ziel haben. "Birds And Ships", der Gastbeitrag Natalie Merchants, ist nach wie vor zum Dahinschmelzen. Dass die Tonspuren noch mal neu gemischt wurden, verleiht dem altbekannten Material einen neuen Glanz.
Doch die vorliegende Jubiläumsausgabe ist auch aus anderen Gründen lohnenswert. So lässt sich die Entwicklung des Projekts gut nachvollziehen. Der direkte Vergleich zeigt, dass Bragg beim ersten Album seine Mitstreiter in den Hindergrund drängte, was im Nachhinein für schlechte Stimmung sorgte. Auf "Vol. II" (2000) stehen also Wilco im Vordergrund, wobei das Material nicht die Qualität des ersten hat. Frontmann Jeff Tweedy tat sich mit Guthries stark politischem Ansatz offenbar zu schwer.
Nicht nur für Liebhaber interessant ist CD 3, auf der bisher unveröffentlichte Aufnahmen der Sessions zu hören sind. Den Löwenanteil macht Bragg aus, der sich mehr oder weniger durch später zur Seite gelegte Demos singt und sich dabei selbst mit Gitarre, Banjo und E-Klampfe begleitet. Auch Wilco lassen aufhorchen, mit dem grandiosen Delta-Blues "Gotta Work" oder dem erst 2009 aufgenommenen "The Jolly Banker".
Lohnenswert fällt auch die 90-minütige, kurzweilige Dokumentation "Man In The Sand" aus, die den Lebenslauf Woody Guthries mit der Entstehung der Alben und Interviews mit allen Beteiligten verknüpft.
Woody Guthrie starb 1967. Am 14. Juli 2012 wäre er 100 geworden. Dass er immer noch aktuell ist, würde ihn wahrscheinlich selbst verwundern. Und vielleicht beweist ihm sein ehemaliger Jünger Dylan doch noch mal die Ehre – denn selbst nach den vorliegenden drei CDs bleiben noch so viele Texte übrig, dass es für viele weitere Aufnahmen und Interpretationen reicht.
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