laut.de-Kritik

Es tut wieder gut, zu leiden.

Review von

Chino Moreno liebt die Achtziger. Sogar seine Kinder hat er mit diesem Fetisch angesteckt und so zeigt der Deftones-Sänger stolz seinen Nachwuchs, der sich in bester The Cure-Manier die Haare toupiert und den Robert-Smith-Lookalike-Contest für sich entscheidet. Sein Sideprojekt Crosses lebt diese Begeisterung wie schon auf dem Debütalbum absolut schamlos für den Goth-Pop aus, mit Moreno als Wiedergänger Dave Gahans.

Abseits der Deftones steigt er in die Gruft hinab und huldigt wie als Teenager der düsteren Seite der Popmusik. Ein halbgares Spaßprojekt ist Crosses natürlich nicht: Das Cover trägt überdeutlich die Züge von Morenos Hauptband und vereint sehnsüchtige Depression mit Metaphern über Sex. Das weckt Erinnerungen an Songs mit expliziten Texten wie "You've Seen The Butcher" von "Diamond Eyes". Ein weiterer wichtiger Bestandteil von Crosses bleibt natürlich Shaun Lopez, der mit seiner Band Far quasi die Blaupause für die Deftones war und leider nie die volle Aufmerksamkeit bekommen hat.

Den beiden Nachtgestalten gelingt auf dem zweiten Album wieder die richtige Mischung aus kühler Elektronik und sanften Momenten, die bei ihren Hauptbands zu kurz kommen. Ein Label wie "Deftones ohne Gitarren" greift trotzdem zu kurz, wie der Hip Hop-Track "Youth" beweist. Chino im Rap-Flow passt erstaunlich gut, auch wenn El-P nach der Hälfte übernimmt und erwartungsgemäß zerstört. Hier leben Crosses abseits von ihren Bands den Spieltrieb aus, ohne dass ihnen jemand reinredet. Auch wenn Moreno in Interviews mittlerweile einen sehr entspannten Eindruck abgibt und sein Privatleben komplett im Griff hat: Ein Song wie "Youth" trägt immer noch diese Trauma-Bewältigung von "Around The Fur" oder "White Pony" in sich. Der Kampf mit den Dämonen beschränkt sich heute zum Glück rein auf den Schreibprozess.

Diese traurige Grundstimmung funktioniert auf "God Bless" nicht nur über Wut, gerade "Girls Float † Boys Cry (feat. Robert Smith)" erwischt den Hörer mit Eiseskälte. Robert Smith persönlich durfte das ähnlich angelegte "Teenager" bereits als Cover neu bearbeiten, nun haben ihm Crosses praktisch einen zweiten Teil des schwer depressiven Songs geschrieben. Smiths Vocal-Part hört man leider nur im Refrain, in dem Chino und sein Idol über die Unmöglichkeit singen, mit dem Weltschmerz zu brechen und alles einfach hinter sich zu lassen. Die Erwartungshaltung bei so einem namhaften Feature ist groß, so dass das Endergebnis schön, aber nicht überragend ausfällt. Der Klassiker "Out Of Love", eine geniale Zusammenarbeit des Electro-Duos Crystal Castles und dem Cure-Sänger, bleibt unerreicht.

Die Nähe zur Klangästhetik der 80er Jahre steht Crosses nach wie vor. "Goodnight, God Bless, I Love U, Delete." ist ein Tribut an die Helden ihrer Kindheit, ein intimes Dark Pop-Album zweier Freunde, die dick Kajal-Stift auftragen und denen mit "Found" eine schöne Synth-Line gelingt. Etwas schwächer dagegen das Material, in dem Moreno und Lopez zu sehr auf Indistrial-Rumpel-Beats setzen. In "Runner" kommt die zärtliche Seite in Morenos Stimme besser zur Geltung, weil sie einmal nicht gegen den Industrial-Drum-Sound ankämpfen muss. Ein wunderschönes ruhiges Lied, das den vordergrundigen Trost des Albumtitels vermittelt.

Der hat seinen Ursprung in einem Nachtgebet, das in der Familie Moreno kurz vorm Zu-Bett-Gehen aufgesagt wurde, um die Kinder in Sicherheit zu wiegen. Allein der Zusatz "Delete" zerstört die Hoffnungen, dass Crosses den Hörer womöglich in irgendeiner Form sanft über die Wangen streicheln. Sobald sich die Tür schließt, wird es auch diesmal finster. Lopez und Moreno überführen ihre verstörende Gedankenwelt über Paranoia und Bedrohung in feine Pop-Tunes. Es tut wieder gut zu leiden.

Trackliste

  1. 1. Pleasure
  2. 2. Invisible Hand
  3. 3. Found
  4. 4. Light As A Feather
  5. 5. Pulseplagg
  6. 6. Runner
  7. 7. Big Youth (feat. EL-P)
  8. 8. End Youth (Reprise)
  9. 9. Last Rites
  10. 10. Ghost Ride
  11. 11. Grace
  12. 12. Eraser
  13. 13. Natural Selection
  14. 14. Girls Float † Boys Cry (feat. Robert Smith)
  15. 15. Goodnight, God Bless, I Love U, Delete.

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6 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor einem Jahr

    Hab mal zufällig reingehört, ohne zu wissen, wer hier am Werk war. Die positive Rezension überrascht mich.
    Ist gewiss keine schlechte Musik, aber im elektronischen Sektor gibt es doch deutlich ansprechenderes Material.
    Mir persönlich war es zu belanglos.

    • Vor einem Jahr

      Finde ich auch, ist ganz nett, aber ein paar coole und schräge Sounds machen es noch nicht zu einem guten Album. Davon kann auch Depeche Mode Pre-Memento Mori ein Lied singen. Am Ende fehlen mir die zwingenden Melodien, weswegen das Depeche Mode Album für mich das bessere Depeche Mode Album in diesem Jahr ist :-).

  • Vor einem Jahr

    Das bessere Depeche Mode Album in diesem Jahr.

  • Vor einem Jahr

    Mit der Stimme kannste mir alles verkaufen

  • Vor einem Jahr

    Hmm joa, mit der ersten haben sie ja immerhin zwei Stücke im Soundtrack of my life hinterlassen... So viele wie aus so ziemlich jeder VÖ der Hauptband durchschnittlich auch immer stehen bleiben.

    Aber ausgerechnet im selben Jahr zu veröffentlichen, in dem ich durch die beste Depeche Mode seit "Ultra" so hart 80s-Synth gesättigt bin, tut meiner Lust drauf gerade mächtig Abbruch. Gerade diesen Herbst hätte ich ma wieder überdurchschnittlich Lust auf paar aus gerade so überwundener körperlicher Faulheit eingespielte, achtsaitige ProTools-Ibanez-Bratgitarren-Riffs Bock gehabt, die mich in Herbst und Winter halbewgs zuverlässig nach Frühstück und Badezimmer zur Haustür raus prügeln. :/

  • Vor einem Jahr

    Das erste Album hat für mich wie für Souli nur 1-2 Highlights. Aber hier ist schon ne klare Steigerung und eine echt geile Produktion zu erkennen, find ich. Für mehr als ne Handvoll Songs zum Dauerhören reicht's natürlich trotzdem nicht.

  • Vor einem Jahr

    Auf der EP von 2022 sind übrigens auch paar echt geile Songs drauf (Holier zb)