laut.de-Kritik

Kritik an Konsum, Illusionen des US-Bürgertums und Kriegstreiberei.

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Jello Biafra, der ewig überprüfende Geist, der zynische Kommentator und immerwährende Kopf der Dead Kennedys, empfindet Nostalgie als Gift. Sie verkörpert nicht nur einen von rückblickendem Eskapismus befeuerten Stillstand des kritischen Denkens, sondern könnte ebenfalls auf die absurden juristischen Spielchen der verbliebenen Dead Kennedys bezogen werden.

Nostalgie ist profitabel, generiert ganze Wirtschaftszweige und hilft beim Abschöpfen des neuen Zielgruppenrahmens. Neben dem kläglichen Rest der Misfits schreiben sich dies auch die übrig gebliebenen DKs East Bay Ray, Klaus Flouride und D.H. Peligro auf ihre Fahnen. Ohne ihre jeweiligen Köpfe Glenn Danzig und Jello Biafra touren die Alterspunks durch die Lande, veröffentlichen Re-Issues und Live-DVDs. So gleichen sie kopflosen Hühnern, die lange nach dem Verlust ihrer Schaltzentrale entgeistert über den Hof rennen – dabei jedoch paradoxerweise einige Körner aufpickend.

Mit den Melvins, einem Endpunkt von Biafras Suche nach krediblen Mitmusikern, fasst der betrogene Kreativchef die Misere in gewohnt bissiger Manier zusammen. In "Those dumb punk kids (will buy anything)", das sich auf dem 2005er Werk "Sieg Howdy" findet, heißt es: "And look at all the whores / reunions for no reason / playing only songs from the good old days / about how bad the good old days were."

Natürlich ist es äußerst nostalgisch, das Dead Kennedys-Debüt "Fresh Fruit For Rotting Vegetables" einen Meilenstein zu nennen. Biafra würde mir vermutlich eher mit der Tastatur auf die Finger hauen, als ein Statement zum musikgeschichtlichen Vermächtnis des vor 32 Jahren erschienenen Albums abzugeben. Doch ebenso wie der Grünen-Politiker und Spoken Word-Artist bis heute das Handeln politischer Heuchler anklagt, tönt auch der Duktus des DK-Erstlings in die Gegenwart hinein.

Dies nicht nur, weil der "Zen-Faschist" und zweifelhafte Held der Dead Kennedys-Hymne "California Über Alles", Jerry Brown, aktuell zum zweiten Mal sein Amt als kalifornischer Gouverneur ausfüllt. In einer Zeit, in der der amerikanische Präsident geheime Morde durch Drohnen befiehlt und gleichzeitig den Friedensnobelpreis trägt; einer Zeit, in der das amerikanische Bildungssystem auf Druck von rechts oben weiter zugrunde geht, sind die Kernthesen eines solchen Musik-Klassikers aktueller denn je.

Aber es sind keineswegs nur die verbalen Spitzen und zynischen Kommentare gegen die Obrigkeit, die dem Album seine Zeitlosigkeit bescheinigen. In einer Phase, in der sich Bands teilweise im Zuschauerraum eines Konzerts gründen – sei es, dass wenigstens die Hälfte der Musiker in spe ein Instrument spielen – lugen die Dead Kennedys von Beginn an über den festgezurrten Genre-Tellerrand.

Einflüsse von der Ostküste und aus England, allen voran der Rockabilly-Touch der Ramones oder den Nihilismus der Sex Pistols, ergänzen sie um psychedelische Auswüchse, Surfrock-Licks und ironisch genutzte Anleihen aus dem Pop-Universum.

Als Exempel für eine musikalische Weitsicht, die so vielen Punkbands – natürlich auch absichtlich – abging, steht zunächst einmal "California Über Alles". Während nach und nach die Instrumente einsetzen, entsteht allein durch die geordnete Art und Weise eine fühlbare Spannung. Biafras Gesang beginnt mit der angespannten Ruhe eines Triebtäters, um sich dann mit ansteigendem Tempo des Songs in die Höhe zu schrauben.

Drummer Ted, der sich nach diesem Album von der Band trennt, lässt imaginäre Armeen eilig marschieren. Das Tempo bleibt hoch, bis nach dem zweiten Refrain East Bay Ray abrupt seine psychedelischen Gitarrenriffs direkt über die Nervenbahnen schickt. Der Sturm ist vorüber, Biafra tönt bedrohlich, dass 1984 nun gekommen sei. Hippie-Nazis schicken uns in die Dusche mit nachhaltig gewonnenem Gas, ein Crescendo ergießt sich zum wiederholten Male: "California Über Alles – Über Alles California", bellt Biafra – vorbei.

Beißende Drei-Akkord-90-Sekünder über die Menschheit, die Würgereflexe auslösen ("Forward To Death"), oder nervige, unselbstständige Teenager ("Your Emotions") verkommen dabei jedoch keinesfalls zu Lückenbüßern. Als Teil der unbändigen Geschwindigkeit des Albums, vermitteln gerade sie komprimierte Wahrheiten am laufenden Band. Der Zuhörer sieht sich im Minutentakt mit harscher Kritik an Konsum, Illusionen des amerikanischen Bürgertums, Materialismus und Kriegstreiberei konfrontiert.

Ironische Einschübe unterstreichen die Themen dabei teilweise auf musikalischer Ebene. Während ein Ich-Erzähler in "Chemical Warfare" die Cocktailparty eines Country Clubs mit Senfgas aufmischt, schunkelt man zum Dreivierteltakt, bevor Schreie und lautes Husten den letzten Refrain einläuten.

"Holiday In Cambodia", nach "California Über Alles" der zweite Achtungserfolg der frühen Dead Kennedys, spielt dann mit Surfgitarre und großem Hit-Potenzial. Umgehend stellen sich Assoziationen zur Surf-Szene in Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" ein. Das Surfen an der vietnamesischen Küste funktioniert als Paradox ähnlich dieser poppigen Sounds in einem Punk-Song über amerikanische Mittelklasse-Bübchen in Kambodscha.

Die aus Elvis' Sicht wohl eher zweifelhafte Bearbeitung seines Hits "Viva Las Vegas" funktioniert auf ähnliche Weise. Jello Biafra vertauscht wenige Wörter, stellt Sätze unvorteilhaft um und endet statt mit "Let me shoot a seven with ev'ry shot" auf "Got coke up my nose to dry away the snot." Allein durch die Neuverortung des Elvis-Klassikers wird die Kritik an allem, für das der King steht, sichtbar – ohne allzu deutliche Formulierung. Biafra verändert in einem zynischen Seitenhieb lediglich die letzte Zeile.

Auf eine vielfältige Art und Weise, die viele ihrer Zeitgenossen vermissen lassen, vermitteln die Dead Kennedys ihre Kritik am System. Zynische und satirische Züge durchziehen die Lyrics ebenso wie Gewaltphantasien oder geradlinige Wut. Mit einem Bewusstsein für die Regeln ihres Genres, brechen sie diese punktuell ironisch oder befolgen sie zumindest nicht immer bierernst. So befindet sich kaum ein Song auf "Fresh Fruit For Rotting Vegetables", der nicht mehrere Ebenen bedient.

Während die Dead Kennedys nicht einmal die Reagan-Ära überstehen und nach viereinhalb Alben zerstritten auseinander gehen, bleibt ihre Debüt-LP als Blaupause für textlich wie musikalisch vielseitigen Punk bestehen. Die unsentimentale Rückschau auf einen Klassiker nicht nur der Punk-Geschichte lohnt sich aus vielerlei Hinsicht. Sollte Jello Biafra in seinem Zwang, nach vorne zu schauen dieses Album wirklich nicht mehr auflegen, entgeht ihm offensichtlich einiges.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Kill The Poor
  2. 2. Forward To Death
  3. 3. When Ya Get Drafted
  4. 4. Let's Lynch The Landlord
  5. 5. Drug Me
  6. 6. Your Emotions
  7. 7. Chemical Warfare
  8. 8. California Über Alles
  9. 9. I Kill Children
  10. 10. Stealing Peoples' Mail
  11. 11. Funland At The Beach
  12. 12. Ill In The Head
  13. 13. Holiday In Cambodia
  14. 14. Viva Las Vegas

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