laut.de-Kritik

Trompeter trifft Rap-Acts zur schrill-bunten Party.

Review von

"Wir denken zu viel und fühlen zu wenig / je mehr Maschinerie es gibt, desto mehr Menschlichkeit brauchen wir", eröffnet "Capacity To Love" mit einer berühmten Rede. Sie stammt von Charlie Chaplin in seiner Rolle als "Der Große Diktator" Adenoid Hynkel, einer Hitler-Parodie, die in den USA 1940 ins Kino kam. Die deutsche Synchronisation erschien erst 1958.

Die Liebe, um die es dem Elektronik-Trompeter Ibrahim Maalouf hier geht, oder die Fähigkeit (capacity) zu lieben, ist völkerverständigend gemeint. Als Kind war er Flüchtling. Seine Familie suchte vom Bürgerkrieg im Libanon den Weg nach Paris. Dort traf er als Erwachsener auf Musizierende diverser Länder, so auch auf Flavia Coelho, die hier einen hervorstechenden Song bestreitet. Die Bass-Hymne "El Mundo ft. Flavia Coelho + Tony Romera" heizt ein.

Die Sängerin eröffnet eine lange multikontinentale Gästeliste auf der CD. Sie zum Beispiel stammt aus São Luís, Brasiliens Reggae-Hauptstadt. Seit 2006 lebt sie in Paris, arbeitete mit Patrice und Yaniss Odua. Hier kombiniert sie Baile Funk überraschend vital, frech und fancy mit dem Jazz-Instrument Trompete. Das Lied hat keinen Refrain. Den übernimmt das Blasinstrument wortlos in Form von ein paar Balkan Brass-Takten, bevor Flavia wieder rappt, ruft und mit "un, dos, tres!" feurig und laut zum Tanzen animiert.

House-Produzent Tony Romera lässt zu den hohen Tönen von Flavias Stimme und Ibrahims Tröte die Bässe erzittern. In die Multikulti-Brass-Disco führen uns auch das rhythmisch unwiderstehliche "Tout S'Illumine ft. -M- & Sheléa" und "Better On My Own ft. Alemeda", während die meisten Tracks dagegen dem Hip Hop zuneigen. Der Tune mit Alemeda biegt in der Black Music-Nachbarschaft ab. Der Top Dawg-Neuzugang tritt in SZAs Fußstapfen, Alemeda ist R'n'B-Newcomerin aus Äthiopien, lebte im Sudan und den USA.

Dass De La Soul laut Booklet als featuring Artist dabei sind, überrascht. "Quiet Culture ft. De La Soul" profitiert mit einem Kinderchor (Crossroads School Overtones) und zarten Piano-Lounge-Tönen von den sanften Seiten des Experiments. Zugleich klingen die Vocals smart, rau und abgeklärt, auf Understatement getrimmt. Zusammen ergibt das einen reizvollen Kontrast. Posdnuos von De La Soul sind die Zeiten zu vernebelt und lasch, wobei unklar ist, ob er damit jammernden Zeitlupen-Cloudrap, das gesellschaftliche Klima mit seinen belanglosen Apps, apolitischen Fatalismus oder utopiebefreiten, reaktionären Stillstand meint - oder alles ein bisschen: "It's time to raise dopamine levels / Lazy feet ready to push on the pedals / Hands upon the wheel to steer, burning rubber to discover any new frontier." - "Hände ans Steuer, Gummi geben, um neue Horizonte auszuloten", im Englischen sehr poetisch verpackt.

Mit dem aufstrebenden Kuba-P-Funker Cimafunk (Erik Alejandro Iglesias Rodríguez) und der funky New Orleans-Vorreiterin Tank Ball entsteht der quirlige zweisprachige Tune "Todo Colores ft. Cimafunk + Tank and The Bangas". Tank lässt ihre Zunge in Highspeed überschlagen. Hier treiben die Trompete den Rap und der Rap die Quietsch-Laute des Instruments gegenseitig voran. Außerdem unterlegen harte Bass-Beats das lebenslustige Stück, das kurz vor Schluss schräg die Tonlage wechselt. Weiterer Anspieltipp: das wunderschöne "Back Home ft. JP Cooper", das ruhige und verhangen gestimmte Töne anschlägt.

Der angenehme Aufbau der gesamten Platte bietet etwas Rundes mit jedoch nur wenigen Highlights. Exzellent gestaltet sich der Grundgedanke der Scheibe, der in der Chaplin-Rede wurzelt: "Machinery that gives abundance has left us in want.", "Die Technik, die uns Überfluss ermöglicht, hat uns dem Habenwollen ausgesetzt." Die Satire leitet aus dem Fortschritt die Gier, aus der Gier den Hass und aus dem Hass die Gefangenschaft in einem vergifteten Seelenzustand ab. Weil wir so zivilisiert seien, begännen wir, anderen missgünstig zu sein und hassten unsere Mitmenschen statt sie zu lieben. Der Posdnuos-Beitrag spricht einmal vom "Duft der Rebellion" und vom Ausbruch aus diesen Denkmustern.

Bevor das Album aber den Wortanteil mit rationalen Gedankengängen gegen die vorhandenen rationalen und wirtschaftlichen Muster im Kopf prallen lässt, gibt Maalouf erst einmal Zeit, Chaplins Worte zu verarbeiten. Minutenlang spielt er in "Speechless ft. Charlie Chaplin" instrumental, bis er dann Stimmschnipsel sampelt und in den Electrojazz verwebt. Eine sinnfällige Dramaturgie, die aufhorchen lässt. In den folgenden Nummern ("El Mundo", "Better On My Own") regiert der Tanz-Groove, dann erst übernimmt ab "The Pope ft. D Smoke" (dem schwächsten Stück der LP) der Hip Hop. Und wo ereignet es sich schon, dass der zu elektronischen Arrangements mit Dudelsack-Klangfarben (aus der Trompete) parallel läuft? Beim Track "Money" mit Erick the Architect, der auf zwei Tunes mitmacht, ist das so, und in "Right Time ft. Erick The Architect" spittet er sich richtig ansteckend in seinen Oldschool-Flow.

Mit der Zeit läuft sich das Konzept dann leider in eine Endlosschleife tot, zumindest stumpft es ab. Das liegt an einer überzogenen Masche: Die vom Instrument raus posaunten Melodien schweben als eigene Schicht über verschiedenen Gaststimmen, und diese Kombi kreuzen Rhythmen, die bewusst vom four-to-the-floor-und-immer-auf-die-Eins der allgemeinen Tanzmusik wegführen. Und irgendwann kommt dann fast immer ein bisschen Gypsy-Flair, besagte Dudelsack-Klangfarbe, Balkan-Disco-Groove, Nahost-Touch mit ins Spiel, ganz ungefähr und vage, nie ausbuchstabiert, jeweils ein paar Takte angedeutet. Dieses Muster klappt zwei, drei Mal. Aber nach einem Dutzend Nummern hat man es auch leicht mal über.

Und selbst seinen 100 pro-Trumpf spielt Maalouf nicht so wirkungsvoll aus: Gregory Porters Timbre erweist sich ja in so einem Umfeld eigentlich als Heimspiel. Und statt es sich bequem oder vorhersehbar zu machen, veranstaltet das Ensemble in "Capacity To Love ft. Gregory Porter" sogar psychedelisch verspulte Tonleiter-Jagden. Trotzdem bleibt davon nichts wirklich haften. Hier und an anderen Stellen wählt man den Weg der Beiläufigkeit, elektrisiert zu wenig, überrascht nur punktuell, reibt zu wenig, obwohl der Einstieg Großes versprach. Das hätte man durch Rhythmus-Brüche, Scratches oder aufweckende Interludes womöglich spritziger gestalten können. Es fehlt Beträchtliches, um aus den guten vorhandenen Ideen ein Werk für die Ewigkeit zu machen. Wenn man am Ende bei einem weiteren Filmstar-Monolog in "Our Flag ft. Sharon Stone" ankommt, ist der rote Faden längst zerfasert, die Neugier auf Trompeten-Figuren mit Dance-Riffs längst aufgebraucht. Exzellent heben sich derweil das Eyecatcher-Artwork und die brillante Tonqualität hervor.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Speechless ft. Charlie Chaplin
  3. 3. El Mundo ft. Flavia Coelho + Tony Romera
  4. 4. Better On My Own ft. Alemeda
  5. 5. The Pope ft. D Smoke
  6. 6. Quiet Culture ft. De La Soul
  7. 7. Todo Colores ft. Cimafunk + Tank and The Bangas
  8. 8. Money ft. Erick the Architect
  9. 9. Back Home ft. JP Cooper
  10. 10. Tout S'Illumine ft. -M- & Sheléa
  11. 11. Right Time ft. Erick The Architect
  12. 12. Feeling Good ft. Dear Silas
  13. 13. Capacity To Love ft. Gregory Porter
  14. 14. Our Flag ft. Sharon Stone
  15. 15. Humble ft. Austin Brown

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