Backstage-Pässe, Fan-Briefe von Martin Gore auf deutsch, Interviews mit Zeitzeugen: Zwei Experten zeichnen 40 Jahre Konzertgeschichte nach.
Berlin (mis) - Man würde ja denken, mit ihrer Werkschau "Monument" hätten die Autoren Dennis Burmeister und Sascha Lange vor zehn Jahren bereits alles zum Thema gesagt. Knapp 500 Seiten dick und mittlerweile übersetzt in sieben Sprachen, ist der bildgewaltige Schmöker bis heute in Inhalt und Aufmachung die hochwertigste Bandbiografie und wird zu Recht als Fanbibel bezeichnet. Aber wer sich mit Depeche Mode auskennt weiß: Es ist nie ganz zu Ende. Es gibt immer noch mehr. Mehr Fotos. Mehr Unerzähltes. Und seit 2013 schließlich auch zwei weitere Studioalben der Band. Zwischen "Monument" und "Depeche Mode Live" (Hardcover, Blumenbar, 424 Seiten, 60 Euro) setzten sich der Politologe aus Leipzig und der Grafikdesigner aus Malchin noch mit der Fankultur um die Band ("Behind The Wall", 2018) und der Wave-und-Gruftie-Bewegung ("Our Darkness", 2022) in ihrer ostdeutschen Heimat auseinander.
"Depeche Mode Live" legt den Schwerpunkt titelgemäß auf die Tourneen der Band ab 1981 und schaut außerdem auf die Zeit davor. Selbst ausgewiesene Kenner der Band dürften angesichts eines Bilddokuments staunen, das im elterlichen Gore-Wohnzimmer im Frühjahr 1978 entstanden ist, wo Martin mit seiner ersten Band Norman & The Worms ein paar Songs vorträgt. Wie man es von Experten ihres Schlages erwartet (Burmeister bestzt rund tausend Exponate der Band), ist das Buch ein Sammmelsurium an Anekdoten und raren bis unveröffentlichten Fotos. So schwören etwa nicht nur die Sleaford Mods auf die Funktionalität von Bierkästen auf der Bühne, auch Depeche Mode stellten einst ihre Synthesizer darauf ab. Dass es sich beim legendären Londoner Bridge House-Konzert 1981, wo sie Mute Records-Chef Daniel Miller im Vorprogramm von Fad Gadget entdeckte, um Kisten der Frankfurter Marke Henninger Bräu handelte, war in der Band-Geschichtsschreibung bislang kaum bekannt.
Fan-Briefe von Martin Gore
Die Nähe der Band zu ihren Fans, gerade in den ersten zehn Jahren, ist bekannt (in Belfast 1983 schickten sie einem Fan unbekannterweise Backstage-Fotos) und wurde wohl nie schöner dokumentiert, als mit den Briefen, die Martin Gore 1982 dem glühenden Fan Maren aus Köln auf deutsch zukommen lässt. Die 15-Jährige traf die Band zuvor bereits backstage und beeindruckte offenbar besonders den nach Vince Clarkes Ausstieg frisch gebackenen Songwriter: "Es scheint von deinem Brief, daß du besser für uns als unsere Plattenfirma bist. Du gibst uns mehr Werbung, noch wieder vielen Dank!" Die Bravo brachte die rührende Episode erst 1983 auf einer Doppelseite. In jenem Jahr empfing die Band in London den Schweizer Fanclub "New Life" und präsentierte ihnen den gerade abgedrehten Videoclip zu "Love In Itself".
Auch in "Depeche Mode Live" sind es wieder die Fotos, die Langes und Burmeisters Fleißarbeit dokumentieren. Selbst aus den entlegensten Auftrittsorten förderten sie Bühnenimpressionen zu Tage: Aus der Stadthalle Borken oder der Bochumer Zeche 1982, wo technische Probleme zu mehreren Pannen führten, so dass die anwesenden Kraftwerk-Mitglieder frühzeitig das Konzert verließen oder dem frühen Open Air-Auftritt im niedersächsischen Schüttorf 1983. Auf diesem kurios besetzten Rock-Festival stieß ihr hochtouriger Synthie-Pop eine Armada an Rod-Stewart- und BAP-Fans vor den Kopf. Und offenbar auch Mitarbeiter von Stewart selbst. Als dieser in der Garderobe der jungen Band erscheint, um sich einen Fön auszuleihen, muss die Band passen, woraufhin er in Anspielung auf das New-Romantic-Image ungläubig antwortet: "Aber ihr müsst einen haben."
Der Erfolg aus Sicht der Tour-Veranstalter
Eine Anekdote, die Dan Silver erzählt, Touragent der Band in den ersten zehn Jahren, der interessante Einblicke in das Tourgeschäft der 80er Jahre gibt. Dass Lange und Burmeister den stets zurückhaltenden Silver für ein Interview überreden konnten, ist ein großer Gewinn für das Buch, der das Verhältnis zu Konzertveranstaltern in den unterschiedlichen Ländern und die Rücksprache mit den Bandmitgliedern hervorhebt. Gerade den französischen Markt konnte der Promoter-Fachmann nicht entschlüsseln: Spielte die Band 1982 in Paris noch vor 500 Leuten, waren es schon zwei Jahre später 15.000. Das Konzert musste dreimal hochverlegt werden und fand schließlich im brandneuen Palais Omnisport statt. Auch das wichtige Jahr 1985 ist Thema, wo die Musikwelt auf Live Aid schaut, Depeche Mode dagegen nicht eingeladen wurden und stattdessen zusammen mit The Clash und Leonard Cohen in Brest auftreten. Kurz darauf spielen sie erstmals hinter dem Eisernen Vorhang in Warschau und Budapest, ein Meilenstein für ihr späteres Standing in Osteuropa.
Der ungarische Konzertpromoter Laszlo Hegedus, auf den Daniel Millers Team für die schwierigen und von Bürokratie-Horror geprägten Auftrittswünsche zugingen, rekapituliert diese spannende Zeit ebenfalls mit eigenen Erinnerungen. Genau wie der Hamburger Konzertveranstalter Karsten Jahnke, der die Band bis 1988 in Deutschland betreute und daher wenig begeistert war, als ab 1990 Konkurrent Marek Lieberberg zum Zuge kam.
Für Nostalgiker*innen ist "Depeche Mode Live" also eine feine Sache. Wer wäre etwa nicht gerne 1986 in Kopenhagen auf dem Festival mit Depeche Mode, New Order und Talk Talk gewesen? Neben Backstagepässen, Eintrittskarten und sonstiger Memorabilia lässt sich anhand der Stage-Fotos vor allem nachvollziehen, wie Depeche Mode-Konzerte Jahr für Jahr einen Tick größer wurden, kulminierend in der größenwahnsinnigen Gigantomanie der "Devotional Tour" 1993. Damals hätte das Kapitel Depeche Mode mit Dave Gahans Heroinsucht tragisch enden können, stattdessen ging es noch 30 Jahre weiter. Die späteren Jahre weisen natürlich nicht mehr den Anekdotenreichtum der frühen Jahre aus, das ist der Lauf der Dinge. Depeche Mode sind seit den Nullerjahren eine Maschine, ein gigantisches System, an dem unzählige Arbeitspätze hängen.
Die Nitzer Ebb-Mitglieder Bon Harris und Douglas McCarthy, die mehrmals als Depeche Mode-Support auftraten, erinnern sich daher nicht ohne Wehmut an eine andere Zeit: "1990 waren Depeche noch in einem Stadium, wo sie mit ihren Security-Leuten in einen Club gehen konnten. Ihre Crew hat wirklich zusammengehalten, die kannten sich schon ewig. Es war wie ein Haufen Freunde, die ausgehen. Persönlich haben sie sich nicht verändert, es ist nur das System um sie herum. Bei entsprechender Gelegenheit wäre Martin immer noch mit zehn Leuten auf einer Tanzfläche in einem Schwulenclub in San Francisco. Heute gleicht alles einer Art Industrie." Weitere Gesprächspartner im Buch sind Formel-Eins-Moderator Peter Illmann, Moderator Markus Kavka und der Hamburger Booker Peddy Sadighi (u.a. Nitzer Ebb).
Just Can't Get Enough: DM und ihre Fans
Einen ungeplanten Epilog erfährt das Buch durch den Tod des Gründungsmitglieds Andy Fletcher, der die Songs des aktuellen Albums "Memento Mori" nicht mehr hören konnte. Gore und Gahan haben sich entschieden weiterzumachen und lieferten eines der besten Alben ihrer Spätphase ab. Auf der laufenden Welttournee flimmert Fletchers Konterfei während des Songs "World In My Eyes" über die Videoscreens, es war sein Lieblingssong.
Fletcher habe auch zu dem von vielen Fans belächelten Song "Just Can't Get Enough" ein besonderes Verhältnis gehabt, führen Lange und Burmeister aus: "Fletch, der sich selbst als besten Ein-Finger-Keyboarder der Welt bezeichnete, hat die Hookline dieses Songs auf den letzten Tourneen immer voller Inbrunst gespielt." Selbst wenn der fröhliche Teenie-Pop-Song mit ihren späteren Sounds nichts mehr zu tun hat, ist allein der Titel schon eine akkurate Beschreibung des Verhältnisses der Depeche-Mode-Fans zu ihrer Band. Am Ende belegen die Autoren mit "Depeche Mode Live" erneut ein weiteres Bonmot des verstorbenen Fletcher: "Depeche-Mode-Fans wissen mehr über Depeche als ich. Gäbe es ein Quiz mit mir, Martin und Dave gegen Fans, würden sie spielend gewinnen."
"Depeche Mode live"-Lesetermine:
17.11. Jena, Trafo
24.11. Chemnitz, Brauclub
28.11. Zwickau, Gasometer
04.12. Berlin, Pfefferbergtheater
18.01. München, Rote Sonne
19.01. Basel, Parterre
24.01. Oberhausen, Ebertbad
25.01. Köln, Gloria Theater
01.02. Potsdam, Waschhaus
02.02. Leipzig, Moritzbastei
25.02. Dresden, Societätstheater
Burmeister/Lange: "Depeche Mode Live"*
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