29. Juni 2018

"Wehleidige Heulsusen gibt es immer"

Interview geführt von

Bullet For My Valentine feiern 2018 ihr 20-jähriges Bestehen. Statt auf ihrem sechsten Album "Gravity" einen Nostalgie-Trip zu unternehmen, stoßen sie in poppige Gefilde vor. Matt Tuck und Neuzugang Jason Bowld strotzen vor Selbstbewusstsein.

Etwa dreizehn Jahre, nachdem sie mit "The Poison" die neuzeitliche Metalgeschichte entscheidend mitgestalteten, merkt man Bullet For My Valentine die Professionalität deutlich an – mehr vielleicht als anderen Bands. Obwohl der halbstündige Interviewslot steht, redet Matt Tuck bei Promo-Terminen in einer Geschwindigkeit, als müsste er in der Hälfte der Zeit die doppelte Information unterbringen. Seine Kernbotschaft brennt sich unweigerlich ein: Bullet For My Valentine zweifeln nicht, an dem was sie tun – jedenfalls nicht, sobald es einmal in Stein gemeißelt ist – und sind uneingeschränkt stolz auf das, was sie erreicht haben.

Tucks Selbstbewusstsein ist es wohl auch zu verdanken, dass er offen über den Abschied von Sony Music plaudert, ohne böswilliges Nachtreten, aber auch ohne Schongang. Nach erfülltem Fünf-Alben-Vertrag hatten es die Waliser satt, ein Act unter vielen zu sein, und suchten sich mit Spinefarm ein Label, bei dem sie klares Zugpferd sind. Ob dieser Status gerechtfertigt ist, müssen die Fanreaktion auf "Gravity" zeigen. Bullet For My Valentine jedenfalls sind überzeugt von einer fruchtbaren Zukunft – ohne Gründungsmitglied Michael 'Moose' Thomas. Als wollten sie die neugeformte Einheit mit seinem erst 2017 zum Vollmitglied aufgestiegenen Nachfolger Jason Bowld unterstreichen, begleitet Tuck ausgerechnet der Neuzugang auf Promotour – und weiß sich durchaus einzubringen.

Gestern habt ihr im Ramones Museum hier in Berlin eine kleine Listening-Session mit einigen Fans veranstaltet. Wie fielen die ersten Reaktionen zu "Gravity" aus?

Matt Tuck: Ja, das war ganz intim gestern. Das Album wurde gut aufgenommen. Es ist super, die ehrlichen Gedanken und Meinungen der Leute bei solchen Events zu bekommen. Wir leben schon eine Weile mit dem Album, haben fast ein Jahr lang daran geschraubt. Etwas Angst ist immer mit dabei, wenn du das Ergebnis nach außen gibst. Wir haben nun zwei, drei Pressetage hinter uns, hatten gestern die Listening-Session und waren echt erleichtert, dass die Reaktionen positiv ausfielen.

Jason Bowld: Es fühlte sich gestern fast an, als würden wir auf die Bühne gehen.

Matt: Ja, Mann, wir waren super aufgeregt.

Wart ihr im Raum, als das Album lief?

Matt: Nee, wir sind rausgegangen und später zurückgekommen. Das wäre zu weird für uns gewesen. (lacht)

Bis zum Release dauert es noch drei Monate. Warum habt ihr die Session so früh anberaumt? Wären die Reaktionen nicht gut ausgefallen, hätte das doch für die Dauer des gesamten Promotion-Zyklus' an euch genagt.

Matt: Naja, wir waren recht zuversichtlich, dass das nicht passieren würde.

Jason: Wir glauben an das, was wir tun.

Euer Sound hat sich erneut verändert. Während "Venom" zurück auf die harte Schiene führte, schielt ihr diesmal noch stärker als in der Vergangenheit in Richtung Mainstream, mit mehr soften, poppigen Passagen – obwohl natürlich auch harte Momente existieren. Vergleicht man "Gravity" mit früheren Alben wirkt es wie ein gleichzeitiger Schritt nach vorn und zurück. Was hattet ihr im Sinn?

Matt: Wir wollten einfach wieder etwas anderes machen. Wie du gesagt hast: Das Metal-Repertoire zeigten wir mittlerweile auf echt vielen Alben. Man weiß, wozu wir als Musiker in der Lage sind, wenn wir denn wollen. Doch das ist nicht, was wir momentan tun wollen. Wir möchten nicht still stehen und Material schreiben, das wir so ähnlich bereits geschrieben haben. Für mich persönlich wäre das nicht ambitioniert genug, ich sehe darin nach so langer Zeit keinen kreativen Mehrwert. Ich wollte etwas Fokussierteres und Dynamischeres schaffen. Nach einigem Hin und Her und ausgiebiger Experimentierphase – auch was die Produktion, Software, Electronics angeht – hatten wir eine gute Balance gefunden und eine Basis, auf der wir wirklich etwas anderes aufbauen konnten. Die Zeit war reif. Es unterscheidet sich im Kern nicht mal dramatisch von vorherigen Werken, die Herangehensweise und Ausführung jedoch schon. Aber weiterhin gilt: Es ist heavy, es ist düster, es ist intensiv, es hat Lichtblicke – alles, was Bullet schon immer ausgezeichnet hat. Es klingt nur anders.

Jason: Ich finde, es hat sogar den härtesten Song in der Geschichte Bullet For My Valentines: "Don't Need You". Und alle andere Songs – ausgenommen die akustischen – haben sowohl heavy Momente als auch sehr melodische.

Matt: Hör zum Beispiel mal das erschütternde Riff in "Piece Of Me"! Die Platte hat alles, was sich ein Metalhead wünscht, aber wir versuchten eben, darüber hinaus Dinge umzusetzen, die wir vorher noch nie so getan haben.

"Don't Need You" erschien bereits Ende 2016 und war ursprünglich als Standalone-Single gedacht. Warum landete es jetzt doch auf einem Album?
Matt: Ja, es war tatsächlich nie als Albumtrack geplant. Aber das Label findet den Track großartig und war der Meinung, es sei ein wichtiges Bindeglied im Übergang zwischen "Venom" und "Gravity". Deswegen gehört es hier hin.

Jason: Es schlägt auch thematisch in eine ähnliche Kerbe.

Matt: Ja, unbeabsichtigt wurde "Don't Need You" thematisch und lyrisch zu Startpunkt von "Gravity". Ich war nicht an meinem absoluten Tiefpunkt im Leben angekommen, aber doch zumindest am bisher wütendsten Punkt, wegen all dem, was mit meinem Leben und meiner Beziehung geschah. Das hat einen Platz auf dem Album verdient. Es war zwar nicht geplant, aber nachdem wir die Meinungen anderer dazu gehört hatten, dachten wir uns: "Warum nicht?" Viele Leute haben den Track wahrscheinlich noch gar nicht gehört. So gesehen bekommt er noch ein zweites Leben.

Jason: Es gibt auf "Gravity" verschiedene 'Emotionsboxen', wenn man so will. "Don't Need You" fällt definitiv in die Wut-Box.

Du hast es eben schon gedeutet, Matt: Die Scheidung von deiner Frau hatte sicherlich großen Einfluss auf die Lyrics oder?

Matt: Zur Ausführung des S-Worts kam es tatsächlich noch nicht, da wir hinter den Kulissen immer noch einiges zu regeln haben. Nennen wir es Trennung. Das spielte eine große Rolle, ja. Wir gingen durch eine seltsame, bittere, kurz: schreckliche Periode, an der die meisten Beziehungen wohl vollständig zerbrochen wären. Aber inzwischen sind wir wieder gut miteinander, wir sind fast beste Freunde und immer noch eine Familie. Nächste Woche fahren wir gemeinsam mit dem Kleinen in den Urlaub. Das Album markiert eine echt beschissenen Abschnitt meines Lebens, aber ich konnte daraus etwas Positives gewinnen. Ich hatte zur Abwechslung wirklich etwas Relevantes und Persönliches zu sagen. Statt nur zu versuchen, so etwas zu liefern, war es in den vergangenen zwei Jahren wirklich da. Ich musste das machen. Ich wollte nicht, aber ich musste. Ich musste darüber schreien, zetern, singen.

"Die Metalsongs fielen durch wie ein Sack Scheiße"

Es kursierten Gerüchte, dass um "Don't Need You" eine EP entstehen würde. Warum wurde daraus letztlich nichts?

Matt: Das war schlicht eine Zeitfrage. Wir hatten im Studio ein Zehn-Tage-Fenster. Unsere Tourzyklen sind hart und lang, dazwischen noch was aufzunehmen war ohnehin recht ambitioniert. Wir gingen mit völlig leeren Händen ins Studio, es ist eigentlich schon unglaublich, dass wir mit einem fertigen Song wieder herauskamen. Von Songwriting-Beginn bis Fertigstellung brauchte "Don't Need You" also etwa zehn Tage.

Jason: Ja, das war ein ziemlicher Energieschub nach all dem Touren. Es war nicht leicht, das Mindset aufrecht zu erhalten.

Matt: Der ursprüngliche Plan war, mit zwei oder drei Songs rauszukommen und einfach zu machen, statt sich unnötig lange damit aufzuhalten. Aber so wie sich "Don't Need You" entwickelte, wollten wir uns schließlich zu 100 Prozent darauf konzentrieren. Das wars definitiv wert – der Track ist ein Monster!

Nach wie vor wird ja diskutiert, ob das Albumformat heute überholt ist und man sich stattdessen lieber auf EPs und Singles konzentrieren sollte – wie eben mit "Don't Need You" geplant.

Jason: Ich glaube, das hängt tatsächlich von der Größe der Band ab. Als neue Band ist es durchaus sinnvoll, vierteljährlich EPs zu releasen, um den Stimulus hochzuhalten. Für uns dagegen läuft das anders. "Gravity" ist ein stimmiger Korpus, der als Album gehört und genossen werden sollte. Dadurch, dass innerhalb dessen aber große, eklektische Vielfalt herrscht, passt er auch in das Multi-Format Spotify. Du kannst die Songs auch einzeln in Playlists packen.

Vor einigen Monaten hast du, Matt, in einem Interview erklärt, dass du für "Gravity" einen anderen Songwriting-Ansatz verfolgtest als bei vorherigen Alben. Wie ging das vonstatten?

Matt: Ja, ich suchte einfach nach anderen Möglichkeiten, einen Song anzugehen und unseren Sound dadurch ein Stück weit neu zu definieren. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was ich erreichen wollte, wusste aber nicht, wie genau ich dort hinkommen würde. Ich bin zwar eine ganze Weile im Geschäft, aber am Puls der Zeit was Musik-Technologie und elektronische Produktion war ich nie wirklich. Also informierte ich mich und entwickelte ein Ohr für Sounds, deren Gegner ich lange Zeit war. Ich arbeitete unter anderem mit einem Typen namens Matt Schwartz, der seit Jahren mit EDM-Künstlern zu tun. Ich brachte mich in eine Situation, die ich wirklich hasste. Aber ich lernte daraus sehr viel, erkannte, was König ist. Der Song ist König. Also schrieben wir Songs und er EDM-fizierte das anschließend. Das war mindfucking. Ich lernte viel über Balance und Risiko, ließ meinen Schutzwall herunter und zwang mich zu Experimenten. Denn nichts ist wirklich fertig bis zur finalen Version.

Hast du auch angefangen EDM zu hören?

Matt: Hab ich schon immer, auch Pop. Ich höre keinen Metal mehr. Mit Metal bin ich aufgewachsen. Metal ist in meinem Blut und in meiner DNA. Ich werde immer eine Schwäche dafür und immer dafür einen speziellen Platz im Herzen reserviert haben. Metal wird nie weggehen. Aber inzwischen interessiere ich mich für Songs im Allgemeinen. Ich will gute Melodien, Hooks, Songstrukturen, interessante Sounds.

Früher habt ihr technisch wesentlich anspruchsvolleres Material geschrieben. Wann war der Punkt erreicht, an dem ihr gesagt habt: "Okay, das brauchen wir nicht mehr, wir müssen uns nicht länger beweisen"?

Matt: Ich glaube tatsächlich erst nach der Tour zu "Venom". Wir konnten nicht noch gniedeliger werden als auf "Venom", wo es in so vielen Songs viele Soli gibt. Super, dass wir das gemacht haben – es zeigte die Band am Höhepunkt der Technik und des Metal-Anteils. Aber ich wollte das einfach nicht mehr machen.

Jason: Die Ironie ist: Die schnellen Songs von "Venom" wurden nicht mal richtig getourt. In Gänze spielten wir "Venom" nur in Japan. Abseits davon kamen die schnelleren Songs nie wirklich zum Zuge. Die Leute lieben die hymnischeren Tracks auf "Venom", wie "You Want A Battle? (Here's A War)", "Worthless", "No Way Out" und "Venom", den Song.

Matt: Natürlich präsentierten wir so viel neues Material wie möglich auf Tour, aber bald schon begannen wir, Stücke auszusortieren, von denen wir wussten, dass sie nicht die Aufmerksamkeit bekamen, die wir eigentlich erwartet hätten. Und das waren die Metalsongs: "Army Of Noise", "Pariah". Die fielen durch wie ein Sack voll Scheiße. "Battle" dagegen ging durch die Decke! Die Leute drehten durch beim Chorus! Wir reagierten also nur auf das, was wir jeden Abend auf der Bühne erlebten.

Jason: Das hat wohl unbewusst auch "Gravity" beeinflusst.

Matt: Ganz sicher sogar. Wir wissen, was funktioniert und was nicht. Wir sahen es jede Nacht. Wir gingen den einen Pfad in der Vergangenheit, wir müssen ihn nicht noch stärker beleuchten und uns damit selbst missbrauchen. Lass uns einfach große "Fuck Off!"-Songs schreiben, die die Menschen lieben werden!

Jason, du bist erst seit 2017 Teil der Band. Hast du zum Zeitpunkt deines Einstiegs erwartet, dass die Band sich in diese Richtung entwickeln würde, die nun "Gravity" repräsentiert?

Jason: Nein. Ich hatte gar keine Erwartungen. Denn ich weiß, wie Bands funktionieren. Es ist gefährlich, anzunehmen, dass man sich in eine bestimmte Richtung bewegen wird. Ich nahm es Tag für Tag wie es eben kam und genoss das Experimentieren. Du kannst einfach nicht mit der Erwartung rangehen, dass eine Band wie Bullet in vier Wochen ein Album hinhaut. Acht Monate hat es gedauert. Ich folgte gerne Matts Vision.

Was waren denn eigentlich deine Stationen vor Bullet For My Valentine?

Jason: Vor einer ganzen Weile fing alles mit einer Band namens Pitchshifter an. Irgendwann wurde ich Sessionmusiker für verschiedene Bands. Ich will dich damit jetzt echt nicht langweilen. (lacht)

Nenn doch ein paar.

Jason: Killing Joke ist wahrscheinlich die bekannteste Band. Es waren aber auch einige obskure dabei. In Kontakt mit Bullet kam ich 2010. Ich schrieb mit Matt ein Album mit dem Projekt AxeWound. Seitdem habe ich mit Bullet ja so eine Art On-Off-Beziehung unterhalten und geholfen, das Segel hochzuhalten. Ich blieb immer in Kontakt mit Matt, pflegte ein gutes Verhältnis zu ihnen und genoss es, gemeinsam Musik zu machen. Es war eine recht natürliche Entwicklung. Bis zur Vollmitgliedschaft tourte ich ja knapp zwei Jahre mit ihnen. Es ist schon toll, Teil einer Band zu sein, auch eine Stimme im Albumprozess zu haben, etwas von Beginn an mitzuerleben, jetzt Promo dafür zu machen und anschließend auf eine zweijährige Welttournee zu gehen.

Euer alter Drummer Michael 'Moose' Thomas verließ die Band zunächst nur vorübergehend, ehe die Entscheidung zum vollen Wechsel fiel. Ging diese letztlich von euch aus oder von Moose?

Matt: Es war in erster Linie die Entscheidung der Band. Letztlich passierte es aus den richtigen Gründen und es lief über einen langen Zeitraum darauf hinaus. Wir stießen an einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Jason war da, die Band so happy und vor allem stabil wie lange nicht mehr. Wir mussten einfach tun, was getan werden musste – für die Zukunft aller Beteiligten. Und hier sitzt er...

...und übernimmt bereits die Pressearbeit.

Matt: Ja, Dude. Ich lerne ihn an, damit ich das bald nicht mehr machen muss. Ich streiche die Lorbeeren ein, du musst arbeiten! (lacht)

Steht ihr noch in Kontakt mit Moose?

Matt: Nee, nicht wirklich.

Ihr wisst also auch nicht, was er momentan so treibt?

Matt: Naja, seinen Online-Aktivitäten nach zu urteilen, schreibt er wohl weiterhin Musik, für oder mit anderen Leuten. Wir werden sehen.

Hat sich der Songwriting-Prozess durch sein Ausscheiden verändert? Warst du eigentlich schon daran beteiligt, Jason?

Jason: Ja! Ich konnte meinen Senf beigeben und war auch offen, Neues auszuprobieren. Im Metal steckt man oft traditionell etwas dumme Grenzen. Viele Bands werden schon unsicher, wenn sie einen Synthesizer nur ansehen. Probiert es doch einfach mal aus, Mensch!

Matt: Es funktioniert. Klar kann es ziemlich in die Hose gehen. Und diese angesprochenen Grenzen existieren aus gutem Grund. Auch wir folgten ihnen lange. Aber wenn du reif, mutig und gut genug bist, kann es auch klappen. Vergangenheit und Zukunft schließen sich nicht aus. Ich glaube, es gibt auf dem Album nichts, was Leute zur Weißglut bringen wird. Ja, Augenbrauen werden hochgehen, das bestimmt. Denn es gibt Neues. Doch der Song ist König. Und die Songs sind – wenigstens in meinen Ohren – großartig, fantastisch. Genau das willst du doch als Songwriter erreichen.

"Sony konnte uns nur Macht und Geld geben"

Beeinflussten euch bestimmte Bands, bei denen ihr beobachtet habt, dass die eben angesprochene Kombination funktionieren kann?

Jason: Unser Produzent Carl [Bown] hatte großen Einfluss.

Matt: Naja, ich würde einfach sagen: Wenn ein Song funktioniert, funktioniert er einfach. Bullet wurde seit der "The Poison"-Ära nicht mehr von anderen Bands beeinflusst. Damals zeigten wir recht offensiv und auch stolz Einflüsse à la Iron Maiden und Metallica. Jetzt wollen wir einfach etwas machen, das wir vorher noch nicht gemacht haben – und auch niemand sonst. Das ist schwer zu erreichen, sogar unmöglich. Aber mit diesem gesteckten Ziel gelingt es trotzdem, die Band auf ein neues sonisches Level zu heben. Wir wollten, wie vorhin schon erwähnt, das, was uns ausmacht, anders umsetzen als bisher. Die einzige Band, die mir dazu gerade in den Sinn kommt, sind Bring Me The Horizon. Die haben sich komplett auch den Kopf gestellt – von fürchterlichem, übergeschnapptem Deathcore hin zu verblüffenden Songs und polierter Rock/Electronic-Crossover-Produktion. Das ist fantastisch. Definitiv ein Augenöffner.

Ihr jüngstes Album ist ja im Grunde Pop.

Matt: Ja und es ist toll. Gut, dass sie die Eier hatten, das durchzuziehen. Wir wissen, wie schwer es ist, diese Hürde zu nehmen. Und ihr Backkatalog ist viel extremer als unserer.

Könnt ihr euch vorstellen, auch mal derart weit weg vom Metal zu gehen?

Matt: Ich weiß nicht. Das hängt einfach von der Zeit ab.

Jason: Wer weiß, wie das nächste Album klingen wird. Es könnte Thrash werden, es könnte heavier werden, es könnte softer werden. Schauen wir einfach mal.

Okay, okay, noch ist ja nicht einmal "Gravity" raus, ich hör ja schon auf.

Matt: (Lacht) Genau, lass uns doch erstmal hierauf ein bisschen ausruhen.

"Gravity" ist euer erstes Album, das via Spinefarm Records erscheint. Alle Vorgänger liefen über Sony Music, wo ihr zu Beginn eurer Karriere einen Deal über fünf Alben abgeschlossen hattet. Dachtet ihr schon länger darüber nach, Sony zu verlassen?

Matt: Nee. Aber wie du sagst: Wir hatten bei Sony einen Vertrag über fünf Alben unterschrieben. Den haben wir inzwischen erfüllt. Wir hatten eine tolle Zeit dort, haben viel erreicht. Aber Motivation, Leidenschaft und Liebe für die Band war uns wichtiger, als aus anderen Gründen neu zu unterschreiben. Das konnten sie uns nicht geben. Sie konnten uns die Macht des Unternehmens geben und Geld. Aber es fehlte der Drive, sie wussten nicht mehr wirklich, was sie mit uns anfangen sollten. Alle, die anfangs dabei waren, sind jetzt nicht mehr da. Es ist ja eine ganze Weile vergangen. Die Musik veränderte sich, Leute wurden gefeuert, Plattenfirmen gingen unter. Es ist nicht mehr das, was es mal war. Wir wollten einen Neubeginn. Jason ist neu dabei, wir wollten kreativ und musikalisch eine neue Richtung einschlagen. Mit einem leidenschaftlichen, motivierten Team im Rücken fällt das leichter.

Jason: Spinefarm bringt uns so viel Liebe entgegen – sei es von Seiten unseres A&R oder den erfahrenen Labelköpfen. Alle dort bringen Erfahrung mit und wissen, wie eine Band wie Bullet gehandhabt werden muss. Sie mischen sich nicht beim Songwriting ein, unterstützen uns aber sehr dabei. Sie zahlten für verschiedene Studios und Studiozeit, halfen uns dabei, den neuen Sound zu finden.

War es rückblickend die richtige Entscheidung, gleich zu Beginn der Karriere einen 5-Alben-Vertrag zu unterschreiben?

Matt: Absolut! Uns lagen trotz des frühen Stadiums einige andere Angebote vor. Aber in so einer Situation musst du einfach mit dem Größten gehen. Eine solche Gelegenheit kommt nicht jeden Tag – schon gar nicht für eine lottrige walisische Metalband. Also nahmen wir sie wahr und hängten uns rein. Und wie gesagt: Wir schafften Unglaubliches zusammen. Ich werde das niemals vergessen und immer zu schätzen wissen. Doch inzwischen sind wir eben in einer anderen Situation. Wir waren irgendwann nur noch eine von vielen Bands im Roster. Und die Leute, die einst leidenschaftlich für uns kämpften, arbeiteten nicht mehr für uns.

Durch den Wechsel zu Spinefarm steht ihr jetzt vermutlich an der Spitze des Labelrosters.

Matt: Exakt. Hier sind wir eine große Priorität. Und wir wollen natürlich eine Priorität sein. Warum sollten wir sagen: "Och, wir wollen doch gar keine Aufmerksamkeit ..." Und wie wir Aufmerksamkeit wollen. Wir wollen sämtliche Aufmerksamkeit! Wir wollen die ganze Liebe, allen Aufwand und jede Motivation, die das Team aufbringen kann. Damit ist es schwer zu verlieren.

2018 bedeutet 20-jähriges Jubiläum für Bullet For My Valentine...

Matt: Ja, das Thema hatten wir heute schon öfter. (lacht)

Angefangen habt ihr als Coverband. Lamb Of God, die genauso begonnen haben, haben kürzlich aus Jubiläumsgründen ein Coveralbum aufgenommen. Könntet ihr euch was Ähnliches vorstellen – zum Beispiel eine kleine Clubtour als Coverband? Nicht unbedingt für das aktuelle Jubiläum, vielleicht auch später...

Matt: In der Karrieresituation, in der wir uns momentan befinden, definitiv nicht. Vor uns liegt eine zweijährige Tournee und eine Menge Promotion. Das ist Luxus und ich bin echt dankbar dafür. Sollten es uns mal in den Fingern jucken – klar, warum nicht. Aber solche Dinge bedürfen viel Vorbereitungszeit und stehlen eine Menge kreativer Energie aus neuen Dingen. Da muss man Prioritäten setzten. Aktuell liegen unsere Prioritäten einfach anderswo. Der Fokus liegt auf Bullet, nicht auf den Songs anderer Leute.

Ein anderes Jubiläum habt ihr ausgiebig gefeiert: Das 10-jährige zu "The Poison". 2017 erschien die DVD zur begleitenden Tour. Saht ihr das auch als Fingerzeig, das alte Kapitel zu schließen und ein neues zu beginnen?

Matt: "The Poison" hatte einfach verdient gefeiert zu werden, dafür, was es ist, wofür es steht und was es vielen Menschen bedeutet. Ich glaube, das Album markiert nicht nur einen wegweisenden Moment in der Karriere unserer Band, sondern des gesamten Metalgenres. Es gibt nicht viele Alben, die Vergleichbares geschafft haben. Deswegen war hierfür eine Feier angebracht. Doch würden wir das für jede andere Platte – zum Beispiel heuer "Scream Aim Fire" – oder sonstwas machen, würden wir uns für immer auf "10th Anniversary"-Tour befinden. (lacht)

Ja, du hast schon irgendwie recht. Ob man das Album nun mag oder nicht oder das, wofür es steht – "The Poison" schlug Wellen in der gesamten Metalszene.

Matt: Definitiv. Es ist ein besonderes Album. Es bedeutet viel für uns, für unsere Fans und hoffentlich für weite Teile der Metal-Community. Es war der Beginn eines neuen Kapitels im Rock und Metal. Ganz sicher.

Jason: Wenn du es dir rückblickend anhörst, ist es auch echt eklektisch. "All These Things I Hate (Revolve Around Me)", "Tears Don't Fall", "Her Voice Resides" – das ist doch verrückt!

Matt: Es ist auch ein etwas weirdes Album, gebe ich zu. Aber das macht seinen Charme aus.

Wie hast du "The Poison" aufgenommen, als es rauskam, Jason? Damals warst du ja lange noch nicht Teil der Band.

Jason: Ich mochte seine Heaviness und wie eben erwähnt seine Vielfalt. Es war roh, zeitgemäß, aber auch ein Kopfnicker in Richtung Vergangenheit. Damit ist es tatsächlich "Gravity" nicht unähnlich. Bullet war nie "eine Thrash-Band" oder "eine Metalcore-Band" oder welches Metal-Subgenre auch immer. Insofern gibt es auch Parallelen zwischen allen Alben. Heute inkorporieren wir eben Elemente aus der 2018-Box.

Heute wie damals habt ihr eine Menge Hater. Bereits bei "The Poison" schossen sie ja regelrecht aus dem Boden, viele kritisierten euch als zu soft, zu weinerlich und all das. Frisst dich das eigentlich an? War das am Ende vielleicht sogar einer der Gründe, warum du "Venom" vor drei Jahren etwas härter angegangen bist?

Matt: Nee, nicht wirklich. Solche Entscheidungen treffen wir persönlich, weil wir etwas Bestimmtes machen wollen. Leute, die uns als zu soft bezeichnen, haben doch keine Ahnung, wovon sie verdammt nochmal reden. Sie sind wahrscheinlich keine Musiker, kein Teil einer Band und verstehen nicht, was nötig ist, um zu machen, was wir machen, und was wir versuchen zu erreichen. Wie könnten sie das auch wissen – ohne dass wir es ihnen von Angesicht zu Angesicht erzählen, was nicht passieren wird? Wir tun, was wir glauben, als Musiker und Künstler tun zu müssen. Das taten wir auf "The Poison" und dafür wurden wir akzeptiert. Ein paar wehleidige, kleine Heulsusen, die deine Band nicht mögen, gibt es immer. Dabei spielt überhaupt keine Rolle, welche Musik in welchem Genre du spielst. Jemand wird immer sagen: "You suck!"

Jason: Hörs dir halt nicht an. Warum hörst du etwas, das dir nicht gefällt?

Matt: Inzwischen sind wir erwachsen genug, um das einfach an uns abtropfen zu lassen.

Unverständlicher als das Hören – es spricht ja nichts gegen Testen – finde ich ja, dass sich Leute auf Facebook-Seiten von Bands tummeln, die sie nicht mögen.

Matt: Ja, keine Ahnung. Aber hey: Cool Mann, wir sind so scheiße, dass du deine eigene Zeit verschwendest, indem du meine Band hasst. Gut für dich. Wir müssen niemandem etwas beweisen außer uns selbst.

Jason: Sie sollten aufhören, so viel Dream Theater und Mastodon zu hören. (lacht)

Matt: Oh ja, ihr seid sooo cool... (lacht)

Jason: Hab' ich jetzt die ganze Prog-Community gegen mich aufgebracht? Bitte jetzt nicht falsch verstehen, ich meins nicht so... (lacht)

Matt: Ach, wir haben keine Angst davor, Leute mit unseren Kommentaren zu ärgern. Kommentare sind erlaubt, das gehört einfach dazu – in jedem Genre, schon immer.

Letzte Frage an dich, Matt: Vor zwei Jahren hast du an der Jägermeister-Challenge teilgenommen und einen Gig zu Wasser, zu Land und in der Luft in norwegischer Eiseskälte gespielt. Hattest du vorher eigentlich schon Erfahrung im Fallschirmspringen?

Matt: Nein, tatsächlich nicht. Ich wusste, was kommen würde und wir hatten ein paar Meetings zur Vorbereitung. Vor Ort sprach ich noch kurz mit einem Safety-Guard und dann saß ich plötzlich im Helikopter ohne Türen und befestigt an einer Leine und einer Gitarre. Und schwups gings nach draußen. Boom. See you later.

Das war wirklich dein allererster Sprung?

Matt: Ja. (lacht) Wir machten das insgesamt dreimal, direkt hintereinander für die Challenge. Raus aus dem Hubschrauber, fliegen, landen. Gitarre zusammenpacken, zurück in den Hubschrauber und noch mal von vorn. Hui!

Bist du seitdem noch mal gesprungen?

Matt: Nein. Aber irgendwann will ich schon noch mal. Nur bitte ohne den ganzen Bullshit drumrum und ohne das arktische Wetter. Ist nur schwierig, eine Gelegenheit dafür zu finden. Es war definitiv eine krasse Erfahrung. Sowas machst du ja auch nicht jeden Tag. Im Polarkreis aus einem Helikopter geschubst werden ist schon ziemlich cool. Deswegen hab ichs auch gemacht. Einen normalen Fallschirmsprung kannst du schon mal machen – aber aus einem Helikopter? Im Polarkreis? Ich musste das tun!

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