laut.de-Biographie
Jon Batiste
Michael Jackson liegt vor ihm, und Babyface. Keiner sonst fand sich vorher je so oft unter den Grammy-Nominierten wie Jon Batiste anno 2022. Zwei Jobs führen den Künstler aus Louisiana auf dieses Level: das Komponieren von Soundtracks und seine reguläre Arbeit als Artist. Dabei hat er noch viele weitere Funktionen. Das große Kommerz-Geschäft in der ersten Reihe interessiert ihn gar nicht so sehr. "Die Welt im Großen und Ganzen hält Musik einfach für Entertainment. Geht man zurück zu den Wurzeln, ist sie das nie gewesen. Zwar ist sie das in einer Dimension", räumt Batiste gegenüber der San Francisco Classical Voice ein. "Aber das gesamte Spektrum von Musik reicht viel, viel weiter und tiefer."
Die Verzahnung des Black Lives Matter-Movements mit Musik ist ein illustres Beispiel für das, was Batiste meint. Sein Video-Clip zu "We Are" verbildlicht blankes Empowerment. Ein Verstärken des Selbstwertgefühls für die Black Community, auch wenn das Begriffskonzept seinerseits das Risiko des Rassismus birgt. Das 'Wir', damit ist gemeint, dass wir alle selbst in düstersten Momenten eine positive Haltung einnehmen sollten, um uns die schwierigen Phasen zu erleichtern. Was philosophisch ein bisschen nach Paulo Coelho klingt, wirkt musikalisch euphorisch. Ganz so, wie der utopische, fröhliche und stürmische Disco-Funk der mittleren und späten 70er, von Kool & The Gang, dem Nile Rodgers-Universum oder Earth, Wind & Fire.
So ist auch die offen und funky gehaltene Art von Jazz aufzufassen, für die der Künstler einsteht. In Kenner, einem Vorort von New Orleans, kommt er am 11.11.1986 zur Welt. Zum Karnevals-Startschuss in der Stadt des berühmten Mardi Gras. Seine Verwandtschaft zählt einen Haufen Musiker*innen. Schon deswegen, weil manche in Marching Bands für aktiv sind. Die Familie hat zuhause sogar eine eigene Gruppe namens The Batiste Brothers Band. Wie praktisch! Der junge Jonathan (Jon ohne h) steigt als Achtjähriger ein. "Wir spielten alle Arten von Musik, die aber ihre Wurzeln im Funk und Soul und natürlich der Musik von New Orleans hatten", beschreibt er die Spanne der traditionellen bis modernen Spielarten. Zu dieser Zeit sitzt er an Drum-Kit und Percussion-Instrumenten. Trommelt, rasselt, klopft und scheppert.
Erst mit elf wechselt er ans Klavier. Denn die Batistes hatten schon recht viele Taktgeber an den Trommelmembranen. Vorschlag seiner Mama: Lieber aufs Klavier umsatteln. Jon nimmt Unterricht. Pendelt dann zwischen drei Welten: Klassik-Grundkenntnisse aufbauen, im New Orleans-Funkjazz jammen, und dann mal was Ausgefallenes: er überträgt Videospiel-Soundtracks aus Fantasy-Games in Piano-Arrangements. So bringt er sich das Transkribieren bei.
Die Schulzeit teilt sich Jon mit Trombone Shorty am New Orleans Center for Creative Arts. Während der Highschool erscheint bereits das erste Album, "Times In New Orleans" (2003). Über die lokale Area hinaus ist es jedoch nicht erhältlich. Nach dem Schulabschluss 2004 entscheidet sich der Dixieland-Fan für eine Karriere in der Musik und für den Wegzug ins 2.200 Kilometer entfernte New York.
Dort schreibt er sich an der Juilliard School ein, einer privaten Schauspielschule, die zu dieser Zeit gerade frisch einen Jazz-Studiengang ins Angebot aufgenommen hat.
Berühmte Absolventinnen und Abgänger dieser Einrichtung: Thelonious Monk, Nina Simone, Trickfilm-Komponist Raymond Scott ("Bugs Bunny", "Die Simpsons"), Pina Bausch, Schnulzen-Experte Barry Manilow, "Superman" Christopher Reeve, Steve Reich und Philip Glass (Väter der Minimal Music), Star-Geiger Nigel Kennedy, der deutsche Schauspieler Philipp Moog, Wynton Marsalis, Star Trek-Darsteller Robert Duncan McNeill und der Aachener Geiger David Garrett. Der schließt gerade seine Ausbildung ab, als Batiste sich dort bewirbt.
Im ehrenvollen Kreise der geschichtsträchtigen Vorgänger an diesem Institut, knüpft der Wahl-New Yorker dann schnell Kontakte zu Kommilitonen seiner Generation, die ähnliches vorhaben wie er: den Jazz zu öffnen und für soziale Zwecke zu nutzen.
Er gründet eine Band mit dem vielsagenden Namen Stay Human. Ein Live-Mitschnitt aus dem 'Rubin Museum Of Art' erscheint auf CD und ist wiederum nur lokal erhältlich. Exklusives Geschäft: der eigene Koffer, Verkaufsort: in New Yorker U-Bahn-Stationen. Dort treten Stay Human eine Zeitlang regelmäßig auf. Auch davon presst die Combo einen Mitschnitt, "MY N.Y.". Weitere Ensembles, in denen Jon veröffentlicht: Orleans Avenue und The New Orleans Jazz Orchestra.
Weil er so busy ist, macht der Student Batiste erst 2011 mit dem Titel 'Bachelor of Music' seinen Abschluss und hängt noch einen Master dran. Erstkontakt mit Europa: Als Dozent hält er Musikkurse für Schulklassen und Workshops in Holland. Seine Leidenschaft für Louis Armstrong trägt er dabei immer fest im Gepäck. "Armstrong ist zunächst mal bekannt als glücklicher, jovialer Kerl, aber", führt der 'Louisologe' Jon aus, "wenn du seine privaten Aufnahmen hörst oder seine Briefe liest, stellst du fest, dass es eine Seite gibt, von der die Öffentlichkeit nichts mitbekommen hat."
Nach dem Master-Abschluss erarbeitet er unter dem Titel "Social Music" 2013 sein 'richtiges' Debütalbum. Zudem nimmt er mit dem Bassisten und Produzenten Bill Laswell und Schlagzeuger Chad Smith von den Red Hot Chili Peppers die ungewöhnliche Indie-CD "The Process" auf, die sich mit Elementen aus Fusion, Trip Hop, Drum'n'Bass, Neo-Klassik, Free Jazz und Musique Concrète jeder Zuordnung verschließt und mit einem einzelnen Rap die Form des Instrumental-Albums durchbricht.
Jons Band Stay Human verschlägt es zu einem Auftritt in die Late-Night-Talk-Show 'The Colbert Report'. Stephen Colbert folgt bei CBS auf David Letterman und braucht 2015 eine neue Titelmusik, für "The Late Show With Stephen Colbert". Am besten gleich eine Hausband! Und die Wahl fällt auf Stay Human. Batiste fungiert als Keyboarder und Bandleader. Und noch mehr: Schnell etabliert er sich als Sidekick, macht Späße und wird einem großen und US-weiten TV-Publikum bekannt.
Die Reichweite der Show ermöglicht ihm außerdem, Größen wie John Legend, Nas, Billy Joel, Norah Jones und Will Smith vor laufender Kamera zu treffen und sie mit seiner Band auf der TV-Bühne zu begleiten. Die Namensliste zeigt es sofort: R'n'B, Pop, Singer/Songwriter, Hip Hop - Jon kennt keine Genregrenzen und Berührungsängste. "Die Musik ist im Endeffekt genre-ungebunden, während sie gleichzeitig sehr in meiner Geschichte und der Geschichte dieses Landes verwurzelt ist", sagt Batiste. "Ich habe das Gefühl, dass sie weit über das hinausgeht, was man noch in einen Jazzkontext einordnen könnte." Seine tiefste Verbundenheit im breiten Spektrum der Jazz-verwandten Unterhaltungswelt besteht zum klassischen Soul. So tourt Batiste 2018 mit den Dap-Kings.
Im selben Jahr dockt er bei dem Label an, das seit jeher Jazz für den breiten Pop-Markt angeht: Verve! Er startet mit der CD "Hollywood Africans". Eigene Stücke mischt er mit Jazz-Standards. Mehr Richtung Rhythm'n'Blues verschiebt sich das schnell nachfolgende Live-Werk "Chronology Of A Dream".
Obwohl eine gewisse Kaffeehaus-Atmosphäre und Schwäche für traditionellen New Orleans-Jazz Batistes Werk bis zu diesem Zeitpunkt durchzieht, schert er danach gleich in fünf andere Himmelsrichtungen aus. Als Leiter des Jazzmuseums von Harlem ('Creative Director') verbreitet er in der 129. Straße Vintage-Feeling. Besucher*innen können sich hier ein Bild von der kulturellen und politischen Bedeutung der improvisierten Musik machen. Angefangen mit der Land-Stadt-Migration nach New York über die Blüte der Broadway-Industrie im benachbarten Manhattan bis zu den Riots in der Bürgerrechtsbewegung. Ein richtig multimediales Museum mit Workshops, Live-Vorträgen, Biographien, Oral History, aufgebahrten Instrumenten und Ausstellungen zu bestimmten Themen, für Kids und Erwachsene. Die Webseite über ihren Mentor: "Er findet das Gleichgewicht in einem anspruchsvollen Terminplan voller Auftritte, Engagements als Redner, betreut Events, schauspielert und produziert gelegentlich, während er unablässig neue Musik komponiert."
Zum zweiten mischt der Master of Music im Filmgeschäft mit. Vor der Kamera stand er bereits im Spike Lee-Film "Da Sweet Blood Of Jesus". Professionelle Soundtrack-Arbeit kennt er schon, seit er für Spikes Film "Red Hook Summer" komponierte. Aber sogar Disney möchte den Jazz-Akademiker für sich gewinnen. Der Computer-animierte Film "Soul" handelt vom Musiker-Milieu. Er hat einen Fantasy-Plot, mit Elementen der Reinkarnation. Die Hauptfigur wird im Körper einer streunenden Katze wiedergeboren. Neben Batiste wirken Questlove und Cody Chesnutt am Sound des Scores mit.
Nicht nur das Medium der Arbeit ist hier ein anderes als auf den Platten, sondern auch der Musikstil. Dank Kontakt über einen Toningenieur vernetzt sich der New Orleanser mit Trent Reznor von den Nine Inch Nails und Atticus Ross (Komponist z.B. bei "The Social Network", dem Biopic über Mark Zuckerberg) und gestaltet New Age-Loops. Das Klangkunstwerk erscheint später separat auf Vinyl.
Ebenfalls angesagt beim umtriebigen Jonathan ist im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung der Funk. Zu hören auf dem fruchtbaren Longplayer "We Are" 2021, der eine weitere Spielwiese eröffnet. Am Titellied beteiligen sich verschiedene Schulensembles, so die Marschgruppe St. Augustine High School Marching 100 und die Gospel Soul Children. Das Aufgebot sorgt samt des lebenslustigen Videos für Furore. Message: Solidarität gegen Ungerechtigkeiten!
"Tell The Truth" covert Teile von Cameos "Word Up!", "Cry" fährt einen smarten Lenny Kravitz-Groove, paart Falsett-Gesang mit betörendem funky Bass und bietet Silk Sonics Soundfarbe 'for advanced listeners'. "I Need You" bouncet als fröhliche Party-Nummer, auf die Pharrell Williams und Mark Ronson neidisch sein können. "Whachutalkinbout" vermischt Rare Groove im Stile der frühen Siebziger mit Hip Hop und gipfelt in einer fabelhaften Hammond-Orgel-Impro.
"Boy Hood" verknüpft in Lyrics, Video und Stilkreuzung die New Yorker Heimat samt Basketball und Boombap mit der anderen Heimat in Louisiana. "Und so ist das (...) mit Songs. Man kann in ihnen bestimmte Dinge zum Ausdruck bringen, wenn man sich darin eben auf bestimmte Elemente fokussiert", findet der recht visuell denkende Musiker. Sein Freund Trombone Shorty aus der Kindheit trifft im Song über die Hood auf die Hot Boys aus dem Big Apple. Der Longplayer switcht flink durch die Spielarten.
Im Juli 2021 folgt auf Spotify die Session-EP "Live At Electric Lady", eingespielt an einem einzigen Tag in den Studios, in denen sich einst Hendrix zeitlosen Ruhm erwarb. Und selbst vor der Klassik macht Jon keinen Halt: Im Frühling 2022 absolviert er einen Auftritt mit Symphonie-Orchester in der berühmten Carnegie Hall. Kennzeichen seiner meisten Releases bis dahin sind Euphorie und versonnene Gelassenheit. Damit knackt er (als Außenseiter zwischen allerlei Samplern, Best Ofs und Uralt-Alben) die Spitze der iTunes-Jazz-Charts. Afroafrikanische Vibes den Massen nahe zu bringen, ist ihm somit hervorragend geglückt.
Und neben Fireboy DML, geboren 1996, aus Nigeria, und Native Soul, Hype-Act aus Südafrika, sammelt Jon für sein "World Music Radio" (2023) mit fünf Grammys im Rücken eine bunte Schar an Leuten aus mehreren Kontinenten und Musikstilen ein. Die Rapper Lil Wayne und JID spitten mit, Lana del Rey ist an Bord. Dritter vertretener Kontinent ist Südamerika mit dem Kolumbianer Camilo Echeverry am Mic.
Aus England funkt Little Mix-Sängerin Leigh-Anne Pinnock im "World Music Radio". Aus Europa beteiligt sich außerdem die junge spanische Posaunistin Rita Payés, geboren 1999, und der fünfte Erdteil des Albums ist Asien, mit den weltweit prominenten K-Pop-Girls NewJeans. "Mit dem Begriff 'Genre' hatte ich schon immer Probleme", kommentiert Batiste. "Ich habe dieses Album mit einem Gefühl der totalen Befreiung in Angriff genommen, wie ich es noch nie zuvor gespürt habe."
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