laut.de-Biographie
Kiev Stingl
Dichter, Provokateur, undurchdringliches Enfant terrible, hart wie Mozart, mit einem Underground-Abo auf Lebenszeit: Kiev Stingl ist eines der spannendsten Rätsel deutscher Popmusik. Vier Alben veröffentlicht er zwischen 1975 und 1989, danach ist Schluss. Sein musikalisches Kapitel scheint geschlossen. 2022 der Paukenschlag: Auf dem Klangbad-Label des Faust-Gründers Hans-Joachim Irmler erscheint eine EP mit unveröffentlichten Texten des mittlerweile 79-Jährigen, neu vertont.
A match in heaven: Wer wenn nicht Irmler verstünde etwas von einer intensiven Musikkarriere, die bahnbrechende Momente hervorbrachte, zu denen weite Teile der Öffentlichkeit jedoch nie Zugang fanden. Die Informierten sind dafür voll des Lobes: "Kiev Stingl war ein Gott für uns", schwärmt etwa Rammstein-Keyboarder Flake. Tatsächlich hätte Stingl das Zeug zum Popstar gehabt, war zumindest einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort, 1979/80 in Hamburg, doch in dem Moment, als deutschsprachige Popmusik am Beginn eines kommerziellen Höhenflugs steht, taucht er nach Madagaskar ab.
Stingl kommt am 15. März 1943 im nordböhmischen Aussig an der Elbe im heutigen Tschechien zur Welt. Über den Umweg Mannheim landet er mit seinen Eltern schließlich in Hamburg, wo er aufwächst und eine katholische Privatschule besucht. Im politisierten Umfeld der 68er findet er Gleichgesinnte, die sich für Musik und Literatur interessieren und rebelliert hier und da auch mal auf den Straßen. Den Künstlernamen Kiev eignet er sich nach einem eigenen Theaterstück an, in dem alle Darstellerinnen Städtenamen tragen.
Mitte der 70er schreibt er für das Hamburger Poesie-Blatt "Boa Vista" und hängt in der Künstlerkneipe Cosinus ab. 1975 kommt es zu seiner ersten Albumveröffentlichung beim Philips-Label: "Teuflisch". Maßgeblich unterstützt von seinem Förderer Achim Reichel, ehemaliges Mitglied der Rattles, und in den frühen 70ern mit Lust am Experiment in der Hansestadt umtriebig. Reichel arrangiert die Platte und hilft Stingl als ausgebildeter Gitarrist bei dessen Akustik-Kompositionen.
Das Ergebnis ist eine visionäre Platte mit einer eigenwilligen Interpretation von Deutschrock und Blues, die mit der Monotonie und dem Überraschungsreichtum des Krautrock gepaart wird. Im Prinzip hätte die Originalität und die Direktheit seiner Texte und das ihnen innewohnende Gefühl des Aufbegehrens zumindest bei einem Teil der durch Udo Lindenberg neu für deutschsprachige Rockmusik empfänglich gemachten Klientel zünden müssen. Doch das Album floppt.
Stingl selbst hört keinerlei deutsche Musik, er schwört auf Velvet Underground und die Doors. Beide sind auf "Teuflisch" verewigt: Den Song "Der Sommer ist längst vorbei" widmet er Jim Morrison, Lou Reeds Band verewigt Stingl in einer Textzeile. Seine Geschichten sind stets fintenreich und ironisch, nie plakativ, für die damalige Zeit in jedem Fall abseits der Norm. In "Häng rum" schwärmt Kiev etwa auf einem minimalen Akustikgitarrengerüst einem fiktiven Freund namens Joe von den Freuden des Müßiggangs vor. Es sei angenehm, keine Ziele zu verfolgen und rumzuhängen, ob auf dem Klo, in Uschis Bett oder im "teuersten Nachtlokal".
Seine im Vorjahr nach Amerika entflohene Freundin Susanne inspiriert ihn zum Song "Höllisch kalt". In "Rocker" verteidigt er die in Jugendkreisen nach wie vor populäre Figur des Rockers vor dem konservativen Mief der Bonner Republik: "Nein! Leute! Nein! Ein Rocker ist kein Schwein!". Stingl fühlt sich dem Ungezügelten dieser undogmatischen Lebensform spürbar hingezogen, ohne sie zu romantisieren. Er verteidigt den Künstler als Freigeist, der damals auf offener Straße grundsätzlich wenig zu lachen hatte, gegenüber den Langweilern in ihren Spießerjobs ("Bürger stehn rum und sagen: Bringt ihn um"). Der Titelsong "Teuflisch" beinhaltet nicht nur Flakes Lieblingszeile "O du mit deinen lila Lippen / du mit deinen Milchkuhtitten", sondern ist auch der Song, auf dem Lindenberg-Keyboarder Jean-Jacques Kravetz in Aktion tritt. Kommerziell nützt es wie gesagt nichts.
Erst vier Jahre später erschient "Hart wie Mozart". Reichel ist noch am Start, der Rest nicht. Die neue Band nennt er Sterea Lisa. Der damals noch unbekannte Gitarrist Holger Hiller (Palais Schaumburg) drückt der vielleicht ersten deutschen New-Wave-Platte seinen Stempel auf. Es ist ein faszinierendes Album, das bis auf Stingls Stimme kaum mehr etwas mit dem Vorgänger zu tun hat, ein Charakteristikum, dem er auf zukünftigen Alben treu bleibt.
Erstmals verwendet der Hamburger französische Textzeilen und rückt einige Songs bewusst in Chanson-Nähe. Ein wenig Geld war offenbar auch vorhanden: Der Hit des Albums, "Lila Diva", wird mit echtem Orchester in den Teldec Studios eingespielt. Herrlich croont er da mit der Nonchalance eines Iggy Pop und eines Falco, seinerzeit freilich noch ein Unbekannter namens Hans Hölzel.
Musikalisch ist alles da, was die Neue Deutsche Welle in ihrem ursprünglichen Sinne, in jenem des Terminuserfinders Alfred Hilsberg nämlich, ausmacht: Spannende Texte und kantige, unorthodoxe Popmusik. Hinzu kommt noch ein der Popularität nützlicher Skandal: Das Cover der "Mozart"-Erstauflage zieht eine Klage des Magazins Der Spiegel nach sich, da es dessen Titelblatt nachempfunden ist. Zudem druckt Stingl darauf noch Telefonnummern Hamburger Prostituierter ab. Für ein wenig Wirbel sorgt auch eine Livesendung 1979, in der der 36-Jährige in alle Richtungen provoziert ("Titten auf den Tisch") und schließlich eine Bierflasche durchs Studio wirft. Im gleichen Jahr erscheint sein Gedichtband "Flacker in der Pfote". 1980 spielt er eine kleine Tournee, u.a. in der Hamburger Markthalle, größere Aufmerksamkeit bleibt Stingl aber nach wie vor verwehrt.
Nach der 1981er Platte "Ich Wünsch' Den Deutschen Alles Gute" arbeitet der Dichter an weiteren Songs, die Reichel als zu unkommerziell bezeichnet. Nun hat Stingl erst mal die Schnauze voll und setzt sich nach Madagaskar ab. Nachdem er mit Spielzeugpistolen auf patrouillierende Polizisten schießt, wird er eingesperrt und als CIA-Spion verurteilt. Stingl flieht, lebt eine Zeit lang in Paris, dann in Südamerika, bevor er ab 1985 Berlin als neue Heimat findet. In Christel Buschmanns schrulligem Film "Ballhaus Barmbek" ist er 1988 neben Nico zu sehen. Es sollte ihr letzter öffentlicher Auftritt sein.
In einer Zeitung liest er eines Tages ein Interview mit Dieter Meier von Yello, der sich als Stingl-Fan outet. Meier lädt ihn nach Zürich ein, wo schließlich 1989 die vierte Platte "Grausam Das Gold Und Jubelnd Die Pest" entsteht. Mit dabei sind diesmal die Einstürzende Neubauten-Mitglieder FM Einheit (Schlagzeug) und Alex Hacke (Gitarre) sowie Bassist Thomas Stern (Crime And The City Solution, Rausch). Die Arbeit mit dem Exzentriker führt nicht dazu, dass man sich anschließend in Freundschaft verbunden bleibt, wie es später heißt. Die Platte erscheint auf Hilsbergs Label What's So Funny About, allerdings wiederum zu früh, um etwa vom Blumfeld-Hype zu profitieren.
Anschließend wird es ruhig um Stingl. Nach "Die besoffene Schlägerei" von 1984 erscheinen weitere Bücher: "Kainer Maria Cowboy" im Jahr 1993 und "Sink Skin" 1995. Seine Platten sind längst out of print und nur noch nostalgischen Musikveteranen ein Begriff. Dies ändert sich 2021, als seine drei Alben "Teuflisch", "Hart wie Mozart" und "Ich wünsch den Deutschen alles Gute" erstmals im Angebot der Streamingdienste auftauchen.
2022 holt sich das Klangbad-Team um Irmler und Niklas David von der Band Audiac die Erlaubnis Stingls, 1982 angefertigte Texte zu vertonen. Es sind jene Demos aus den Hamburger Teldec-Studios, die Reichel seinerzeit als zu unkommerziell bezeichnete. Bei "X R I NUIT" handelt es sich um eine EP mit den Songs "Ozean", "Spiel den Brief", "Feu Follet" und "Shang Hai Café (Von Mund zu Mund sind wir zu weit)".
Ende Februar 2024 wird bekannt, dass Kiev Stingl am 20. Februar nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 80 Jahren gestorben ist. Er blieb bis zuletzt produktiv. Die Arbeit an einem neuen Studioalbum, das nun posthum erscheint, war bereits abgeschlossen.
4 Kommentare, davon 3 auf Unterseiten
Sly Stone auch. Jeweils angesichts des (zwischenzeitlichen) Lebenswandels ja durchaus bemerkenswert - herzlichen Glückwunsch!